Gaza-Krieg: „Solidarität mit Israel darf kein Blankoscheck sein“
Die humanitäre Situation in Gaza spitzt sich zu. Daran ändert auch die Wiederaufnahme der Hilfslieferungen wenig, ist Derya Türk-Nachbauer überzeugt. Die SPD-Politikerin fordert mehr Druck der Bundesregierung auf Israel. Eine schnelle Anerkennung Palästinas hält sie hingegen nicht für nötig.
IMAGO/Anadolu Agency
Abwurf von Hilfsgütern über dem Gaza-Streifen: Nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Seit einigen Tagen werden wieder Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen durchgelassen. Hat sich die humanitäre Situation seitdem entspannt?
Nein, nicht wirklich. Diese Hilfslieferungen sind – genauso wie die Luftbrücke – nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Natürlich ist es gut, dass jetzt überhaupt etwas passiert, aber das reicht bei weitem nicht aus. Wenn wir tatsächlich wirksame Hilfe leisten wollen und wenn diese nachhaltig sein soll, dann müssen wir dafür sorgen, dass so viele LKW wie möglich in das Gebiet kommen und vor allem, dass sie sicher ankommen. Und dafür braucht es dringend einen Waffenstillstand.
Verschiedene Hilfsorganisationen warnen schon länger vor einer Hungersnot in Gaza. Die israelische Regierung nennt das eine Lüge. Wie kann es zu einer derart unterschiedlichen Wahrnehmung kommen?
Der Kampf um die Deutungshoheit tobt ja schon eine Weile und ich habe manchmal das Gefühl, dass die Menschen denken, man müsse in diesem Konflikt Team A oder Team B sein. Wir sind aber das Team Völkerrecht und das Team Menschenrechte und das wünsche ich mir auch von allen Demokratinnen und Demokraten. Erschreckend finde ich auch, dass es eine Gleichzeitigkeit der Empathie gar nicht mehr zu geben scheint in diesem Krieg. Wer sich auf die israelische Seite stellt, kann das Leid der Menschen in Gaza nicht anerkennen. Und wer letzteres tut, kann nicht mit den Opfern der Hamas fühlen. Das finde ich schrecklich.
Woran liegt das?
Viele israelische Freundinnen und Freunde erzählen mir, dass sie viele Bilder aus Gaza gar nicht so zu sehen bekommen wie es bei uns der Fall ist. Teile der Bevölkerung wissen also gar nicht, was da wirklich passiert. Die Berichterstattung dort ist wohl erst in den letzten Tagen, auch auf den internationalen Druck hin, kritischer geworden. Auch in Israel gibt es ja Menschen, die ihre Stimme erheben. Es ist wichtig, dass man beide Seiten sieht und der jeweils anderen das Leid nicht abspricht. Man kann gleichzeitig die Hamas als Terroristen bezeichnen und die Freilassung der Geiseln fordern aber eben auch anerkennen, dass die Menschen in Gaza leiden, weil sie völkerrechtswidrig ausgehungert werden.
Derya Türk-
Nachbaur
Solidarität mit Israel ist wichtig, aber sie darf kein Blankoscheck dafür sein, dass Menschen leiden.
In der vergangenen Woche hat die SPD-Bundestagsfraktion einen Appell veröffentlicht, in dem sie einen Kurswechsel im Umgang mit Israel fordert. Gab es dafür einen konkreten Auslöser?
Irgendwann ist einfach ein Punkt erreicht, an dem man nicht mehr schweigen kann. Solidarität mit Israel ist wichtig, aber sie darf kein Blankoscheck dafür sein, dass Menschen leiden. Gerade Freunden gegenüber sollte man auch offene Worte benutzen können. Ich finde es gut, wie sich die SPD-Fraktion hier so deutlich positioniert hat und bedauere, dass wir es nicht eher gemacht haben. Ich habe übrigens unglaublich viele Zuschriften von Bürgerinnen und Bürger erhalten, die sich bedankt haben, denn sie hatten den Eindruck, in der Berliner Politik mit ihren Bedenken gar nicht durchzudringen. Laut einer aktuellen Umfrage wünschen sich 74 Prozent der Menschen in Deutschland mehr Druck der Bundesregierung auf Israel.
Gleichzeitig wurden Vorwürfe erhoben, die SPD-Fraktion würde sich antisemitisch verhalten.
Den Vorwurf des Antisemitismus finde ich völlig deplatziert. Wer die Geschichte der SPD kennt, weiß, dass wir mit Antisemitismus überhaupt nichts am Hut haben. Es ist nicht antisemitisch, rechtsextreme Regierungsvertreter in Israel zu kritisieren. Es ist auch nicht antisemitisch, eine Regierung für diese Kriegsstrategie zu kritisieren. Wir stellen uns gegen jede Form von Antisemitismus und ich finde, man darf da wirklich nichts vermischen. Wir stehen fest an der Seite unserer jüdischen Freundinnen und Freunde. Und die sind über unsere Kritik übrigens auch froh.
Inwiefern?
Auf dem SPD-Parteitag Ende Juni war ja eine Gruppe junger Menschen aus Israel. Sie haben mir erzählt, dass sie es gar nicht nachvollziehen können, warum wir in Deutschland so eine bedingungslose Solidarität mit Netanyahu an den Tag legen. Sie haben mir gesagt: „Wir brauchen Stimmen wie eure, die kritisch mit der Regierung Netanyahu sind, weil das auch ihre Position stärkt, wenn sie in Israel tagtäglich auf die Straße gehen. Sie haben an uns appelliert: „Bitte, bitte erhebt eure Stimme, denn es geht um unsere Zukunft.“ Die Regierung von Benjamin Netanjahu ist nicht die Regierung, die sie wollen. Sie wollen ein friedliches Israel und eine friedliche Koexistenz mit den Palästinensern.
Kritisiert wurde dagegen, dass die SPD-Fraktion ein Ende der Waffenlieferungen an Israel fordert, dem Land also Schutz verweigere. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Thüringen, der auch Genosse ist, hat in einem Text öffentlich infrage gestellt, ob er in der SPD noch richtig aufgehoben ist.
Das muss man schon genau sein: Wir haben gesagt, dass wir gegen Waffenlieferungen an Israel sind, wenn diese völkerrechtswidrig eingesetzt werden. Wir haben nicht gesagt, es sollten per se alle Lieferungen gestoppt werden und Israel solle sich nicht mehr wehren dürfen. Davon ist überhaupt nicht die Rede. Wir sehen ja auch, dass Israel im wahrsten Sinne des Wortes unter Beschuss steht. Natürlich müssen wir es da unterstützen und das werden wir auch.
Derya Türk-
Nachbaur
Im Moment steht eine Anerkennung Palästinas als Staat für Deutschland nicht zur Debatte.
In der vergangenen Woche haben die Außenminister*innen von 28 EU-Staaten ein Ende des Gaza-Krieges gefordert. Die Bundesregierung will sich der Resolution nicht anschließen. Droht sich Deutschland zu isolieren?
Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Deutschland den Appell mit unterzeichnet. Europa sollte in dieser Frage zusammenstehen und diese Einigkeit auch nach außen tragen. Und ich finde es sehr schade, wenn Deutschland eines der wenigen Länder in Europa ist, die diesen Appell nicht mit unterzeichnen und Sanktionsmaßnahmen gegen Israel, die innerhalb der EU diskutiert werden, blockiert.
Auch bei der Anerkennung Palästinas handeln die EU-Staaten unterschiedlich. Frankreichs Präsident Macron hat sie angekündigt, auch Großbritannien hat eine Anerkennung in Aussicht gestellt. Sollte Deutschland dem folgen?
Im Moment steht eine Anerkennung Palästinas als Staat für Deutschland nicht zur Debatte. Dafür müsste der Friedensprozess schon irgendwie in Gang kommen oder zumindest ein Reformprozesse innerhalb Palästinas erkennbar sein. Wir müssen aber auch nicht warten, bis erst jedes Detail geklärt ist, ehe wir Palästina als Staat anerkennen. 147 Staaten der Welt haben Palästina bereits anerkannt. Und für Deutschland steht das sicher auch irgendwann zur Debatte, vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber es darf kein Tabu für Deutschland sein.
Wie realistisch ist die vielbeschworene Zwei-Staaten-Lösung überhaupt noch?
Sie ist leider in sehr, sehr weite Ferne gerückt, aber ich möchte trotzdem an diesem Ziel festhalten und den Menschen Hoffnung auf eine sichere Koexistenz machen. Alle Bemühungen Richtung einer Zwei-Staaten-Lösung sollten wir unterstützen. Dass gerade verschiedene arabische Staaten ein Ende der Hamas-Herrschaft in Gaza gefordert haben, ist ein wichtiges Zeichen und macht zumindest ein bisschen Hoffnung.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.