Wahlabend in der SPD-Zentrale: „Ein historisch schlechtes Ergebnis“
Bei der Bundestagswahl 2025 hat die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis eingefahren. Die Parteispitze verspricht Konsequenzen, die Stimmung im Willy-Brandt-Haus ist dem Ergebnis entsprechend gedämpft.
Dirk Bleicker / vorwärts
Am Wahlabend im Willy-Brandt-Haus warten alle gespannt auf das Ergebnis.
Als um Punkt 18 Uhr die Prognosen zu den Wahlergebnissen von ARD und ZDF verkündet werden, herrscht unter den rund 700 Gästen im Willy-Brandt-Haus gespenstische Stille. Ein NBC-Reporter wird später vor laufender Kamera von einer Atmosphäre wie auf einer Beerdigung sprechen. Ganz so schlimm ist es nicht, doch man spürt an diesem Abend, dass viele hier mit einem enttäuschenden Ergebnis rechneten, stagnierte die SPD in den Umfragen in den vergangenen Tagen doch konstant auf dem dritten Platz – hinter der AfD.
Schwierige Regierungsverhandlungen drohen
Die ersten Prognosen sagen: 16,5 Prozent, von Applaus ist keine Rede. „Ein historisch schlechtes Wahlergebnis, da gibt es nichts drum herumzureden“, sagt die ehemalige Berliner Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey dem „vorwärts“. „Uns ist es offenbar nicht gelungen, bei unseren Wählern erfolgreich um unsere Themen zu werben.“ Bei der Bundestagswahl 2021 hatte die SPD noch mit 25,7 Prozent gewonnen. Neben ihrem schlechtesten Wahlergebnis in einer nationalen Wahl steht in diesem Moment das historisch beste Ergebnis der AfD, mit mehr als 20 Prozent. Außerdem könnten laut ZDF-Prognose FDP und BSW knapp Einzug in den Bundestag erhalten. Eine große Koalition aus Union und SPD hätte dann nicht die nötige Mehrheit. „Das werden sehr schwierige Verhandlungen“, sagt Giffey.
Auch Ana-Maria Trăsnea verfolgt die Prognosen angespannt. Die SPD-Politikerin gehörte dem Bundestag von Mai 2023 bis März 2024 an. Nach der Teilwiederholung der Bundestagswahl 2021 in Berlin verlor sie ihren Sitz im Parlament. Diesmal tritt sie wieder an, im Berliner Wahlkreis Treptow-Köpenick und auf Platz vier der Berliner Landesliste. Ob es für sie für einen Sitz gereicht hat, wird sich erst im Laufe des Abends zeigen.
Grafik: vorwärts; Foto: Imago/Funke Foto Services
SPDings – der „vorwärts“-Podcast, Folge 32 mit Ana-Maria Trăsnea
Zweimal wurden in Berlin Wahlen wiederholt, zweimal war Ana-Maria Trăsnea die Leidtragende. Doch die SPD-Politikerin steckt nicht auf und will im kommenden Jahr in den Bundestag zurückkehren.
Trăsnea spricht von einem Ergebnis, das viele Fragen aufwerfe. „Warum ist es uns nicht gelungen, die Menschen mit unseren Kernthemen zu erreichen?“ Trotzdem fordert, sie den Kopf nicht in den Sand zu stecken. „Jetzt sind wir am Boden. Doch wir müssen wieder aufstehen und weiterkämpfen. Denn die Werte der SPD haben kein Mindesthaltbarkeitsdatum.“ Die Linke habe gezeigt, wie schnell es mit
einer guten Kampagne wieder aufwärts gehen könne.
Ähnlich sieht das Emily Vontz, bislang die jüngste Bundestagsabgeordnete. „Wir müssen wieder linker werden“, fordert sie. Die Partei müsse offener werden, sich auf ihre Grundwerte Freiheit,
Gerechtigkeit und Solidarität besinnen und das Soziale immer mitdenken. Die 24-Jährige entschied sich nach „zwei guten Jahren“ aus freien Stücken dazu, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren und stattdessen ihr Studium fortzusetzen. „Ich hätte mir gewünscht, dass nicht mehr als 50 meiner bisherigen Kollegen mit mir aufhören müssen, weil sie den Wiedereinzug nicht geschafft haben. Das macht mich echt betroffen.“
„Du hast gekämpft wie ein Löwe“
Einer von ihnen ist Jan Plobner aus Bayern. Bei der Wahl 2021 kam er mit Listenplatz 23 als Letzter in den Bundestag. Diesmal war es wieder Platz 23, aber mit einer deutlich schlechteren Ausgangslage und einem kleineren Parlament. Das Wahlergebnis zeigt: Nun wird er in sein bisheriges Arbeitsverhältnis als Beamter der Stadt Nürnberg zurückkehren. Plobner spricht von einem „bitteren Tag“ nach einem „harten Wahlkampf“. Zugleich gibt er sich kämpferisch: „Die SPD hat schon ganz andere Krisen gemeistert. Es war schon immer unsere Stärke, wieder aufzustehen. Denn die Menschen im Land brauchen eine starke sozialdemokratische Stimme.“ Mit Blick auf mögliche Koalitionsverhandlungen sagt er, die SPD sei die Partei der staatspolitischen Verantwortung. Unabhängig von Wunschkoalitionen
müssten die Parteien der Mitte immer miteinander reden können.
18.40 Uhr, der Moment, auf den alle gewartet haben. Bundeskanzler Olaf Scholz, seine Frau Britta Ernst und die Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken betreten die Bühne. Scholz räumt die Wahlniederlage ein, gratuliert der Union, die laut ersten Hochrechnungen mit 28,5 Prozent stärkste Kraft wird. Er dankt den Wahlkämpfer*innen und übernimmt die Verantwortung für das Ergebnis, dann reicht er das Mikrofon an die Parteivorsitzende Saskia Esken weiter. „Lieber Olaf, du hast gekämpft wie ein Löwe“, sagt diese anerkennend zum SPD-Kanzlerkandidaten, die Menge applaudiert.
Esken spricht von einem „bitteren Wahlergebnis“. Die SPD habe Fehler begangen: eine zu knappe Haushaltsführung, zu wenig klare Kommunikation nach außen. „Doch aus den Fehlern lernen wir“, kündigt sie an. Auch Lars Klingbeil spricht von einer „dramatischen Niederlage“. Er nennt es eine „Lebensaufgabe" der Sozialdemokrat*innen, den hohen Zuspruch zur AfD wieder zurückzuschrauben. Mit ernster Miene kündigt der Parteichef einen personellen Neustart seiner Partei an. „Dieses Ergebnis wird Umbrüche erfordern.“ Es sei nun nötig, „dass wir uns organisatorisch anders aufstellen, dass wir uns programmatisch anders aufstellen und ja auch, dass wir uns personell anders aufstellen.“ Klingbeil fordert einen „Generationenwechsel“ in der Partei, und ergänzt dann mit Blick auf die folgenden Koalitionsverhandlungen: „Verantwortung kann man in einer Regierung, aber auch in einer Opposition übernehmen."
SPD am Scheideweg
Die Reden der drei dauern keine Viertelstunde, die Menge applaudiert. Annabel Schumacher ist enttäuscht. Die 21-Jährige ist kurz vor der Bundestagswahl in 2021 der SPD im Oberbergischen Kreis beigetreten. Am Sonntag war sie zum zweiten Mal bei einem Wahlabend im Willy-Brandt-Haus dabei – im Juni hat sie schon die Europawahl dort verfolgt. Damals erzielte die SPD 13,9 Prozent. „Und da haben sie schon von Zäsur gesprochen“, sagt Schumacher über die Rede der Partei-Vorsitzenden. „Und viel davon umgesetzt haben sie nicht.“
Schumacher wünscht sich deutliche Veränderungen. Den Generationenwechsel, den Klingbeil in seiner Rede angekündigt hat, findet die 21-Jährige dringend notwendig. „Mit Kevin Kühnert ist eine wahnsinnig wichtige junge Stimme aus der SPD gegangen. Man sollte sich jetzt fragen, woran es lag, dass man die Jugend nicht erreicht hat.“ Eine Umfrage des ZDF hat ergeben, dass gerade einmal jede*r Zehnte der 18- bis 24-Jährigen sozialdemokratisch gewählt hat. Ob sie jetzt aus der SPD wieder austritt? „Auf keinen Fall“, sagt die Genossin und lacht. „Wir gewinnen zusammen und wir verlieren zusammen. Wir müssen die Niederlage jetzt gemeinsam verarbeiten, aber im Herzen bin und bleibe ich Sozialdemokratin.“
Die Berliner SPD-Landesvorsitzende Nicola Böcker-Giannini sieht die SPD am Scheideweg: „Entweder
können wir unseren Anspruch, führende Mitte-Links Volkspartei zu sein, glaubhaft unter Beweis stellen und uns entsprechend neu aufstellen oder wir werden bedeutungslos werden.“ Ihr Co-Vorsitzender, der Berliner Bezirksbürgermeister Martin Hikel, ergänzt: „Sicherlich haben uns das Pokern um die Kanzlerkandidatur, der reine Abgrenzungswahlkampf zur Union und die Form der Migrationsdebatte nicht geholfen. Symptomatisch ist, dass die SPD die soziale Gerechtigkeit als ihren Markenkern durch einen egozentrierten Claim ,Mehr für dich‘ infrage gestellt hat.“
Auch Alexander Schweitzer, SPD-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, ist sichtlich niedergeschlagen. „Das ist ein eindeutiges, bitteres Ergebnis“, sagt er dem „vorwärts“ und fordert einen „koordinierten Prozess zur Aufstellung der SPD“. „Es braucht jetzt eine bessere Durchmischung, neben den erfahrenen braucht es auch jüngere Köpfe.“ Schweitzer findet, die SPD sollte aber auch mehr von ihren „Erfolgsgeschichten“ erzählen, zum Beispiel mit Blick auf die Länder. Schweitzer regiert in Rheinland-Pfalz in einer Ampel-Koalition mit Grünen und FDP.
Menschen wieder breiter ansprechen
Entwicklungsministerin Svenja Schulze spricht von einem katastrophalen Ergebnis. Die inhaltliche Neuausrichtung, die Klingbeil in seinem Statement angekündigt hat, begrüßt sie. „Wir müssen die Menschen wieder breiter ansprechen“, fordert sie und nennt beispielhaft die Preisentwicklung in Folge der Inflation in den vergangenen Jahren. Diese treibe viele Menschen um und sei im Wahlkampf zu wenig von der SPD adressiert worden. Bezüglich möglicher Koalitionsverhandlungen zeigt sich Schulze zurückhaltend: „Wir haben keinen Regierungsauftrag. Wir haben die Aufgabe, die SPD wieder
nach vorne zu bringen. Das können wir in der Regierung und in der Opposition.“
Auch SPD-Mitglied und Podcaster Lars Tönsfeuerborn ist am Wahlabend dabei, 2019 wurde er als Gewinner der ersten Staffel der schwulen Datingshow „Prince Charming“ bekannt. Tönsfeuerborn ist der Meinung, Friedrich Merz solle sich nach seiner Rede beim Wahlkampfabschluss der Union am
Samstag erst einmal bei der Mehrheit der Menschen im Land entschuldigen. Die SPD müsse in möglichen Koalitionsverhandlungen auf jeden Fall klare Kante zeigen und nicht vor Merz in die Knie gehen. Zugleich sagt Tönsfeuerborn: „Ich bin nach wie vor fucking stolz, in der SPD zu sein. Das Ergebnis spornt mich an, mich umso mehr in der Partei zu engagieren.“
Gegen 21 Uhr, neuen Hochrechnungen von ZDF zufolge würde die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Immerhin. Das Foyer des Willy-Brandt-Hauses leert sich. Nun stehen neue Aufgaben an.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo