Inland

Faktencheck: Gibt Deutschland zu viel für den Sozialstaat aus?

Ist der Sozialstaat aufgebläht? Wer behauptet, Deutschland gebe immer mehr und zu viel Geld für Sozialleistungen aus, kann sich nicht auf Fakten berufen. Eine Auswertung, die verschiedene Staaten miteinander vergleicht, kommt zu ganz anderen Ergebnissen.

von Vera Rosigkeit · 20. Februar 2024
Steigen die Sozialausgaben in Deutschland immer weiter? Ein internationaler Vergleich gibt Antworten.

Steigen die Sozialausgaben in Deutschland immer weiter? Ein internationaler Vergleich gibt Antworten.

Ob Rente mit 63, Kindergrundsicherung oder Bürgergeld, von Seiten der Opposition im Bundestag, aber auch der FDP und der Wirtschaft wird immer wieder kritisiert, dass die Sozialausgaben in Deutschland zu hoch seien und an ihnen gespart werden müsse. Eine Analyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zeigt jedoch das Gegenteil. Wer davon spreche, dass der Staat generell immer weiter aufgebläht werde, verbreitet eine Mär, „die nicht durch Fakten gedeckt ist“, sagt der wissenschaftliche Direktor des IMK, Sebastian Dullien.

Erreichen die öffentlichen Ausgaben und die Sozialausgaben immer neue „Rekorde“, wie Kritiker*innen behaupten?

Sebastian Dullien und IMK-Fiskalexpertin Katja Rietzler sagen klar nein, weil die Höhe von Geldbeträgen hier nicht viel aussagen würden. Da Preise und Einkommen jährlich steigen, stiegen auch die Sozialausgaben. Beispiel Renten: Legen die Einkommen der Beschäftigten zu, erhöhen sich auch die Rentenzahlungen, da sie „einen gewissen Anteil der Einkommen absichern“, so die Autor*innen des IMK-Papiers. Für eine aussagekräftige Analyse seien vielmehr das preisbereinigte Wachstum oder das Wachstum relativ zur Wirtschaftsleistung, aber auch ein internationaler Vergleich mit anderen Staaten relevant.

Wie hoch sind die realen öffentlichen Sozialausgaben im internationalen Vergleich?

Im Vergleich mit anderen OECD-Staaten schneidet Deutschland im Zeitraum von 2002 bis 2022 schlecht ab. Die Analyse zeigt, dass die Sozialausgaben besonders schwach zugenommen haben. Mit einem Wachstum von 26 Prozent belegt Deutschland den drittletzten Platz von insgesamt 27 Ländern. Ganz vorne im Vergleich liegen Neuseeland, wo die realen Sozialausgaben um 136 Prozent gestiegen sind, gefolgt von Irland mit 130 Prozent und Polen mit 126 Prozent.

Wie hoch ist der Anteil der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung im Vergleich?

Hier erreicht Deutschland mit 26,7 Prozent Platz sieben von 18 Ländern. Frankreich und Italien bilden mit mehr als 30 Prozent die Spitze.

Wie hoch ist die Staatsquote im westeuropäischen Vergleich?

Bei der Staatsquote, die alle staatlichen Ausgaben einschließlich der Sozialausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung umfasst, erreicht Deutschland einen Wert von 48,2 Prozent. Sie sei damit sogar „geringfügig niedriger als im Durchschnitt der EU-Länder mit 48,9 Prozent“, so das IMK. Und das sei im Zeitverlauf unverändert: Seit Mitte der 1990er liege der Wert an oder leicht unter dem Durchschnitt des Euroraums.

Wie hoch ist der Anteil öffentlicher Beschäftigung im Vergleich?

Auch hier haben die Wissensschaftler*innen Dullien und Rietzler vorliegende Zahlen der OECD bis zum Jahr 2019 im Zeitverlauf ausgewertet. Die Quote der öffentlichen Beschäftigung im Vergleich zur Gesamtbeschäftigung lag in Deutschland bei 10,6 Prozent. Damit liegt sie mehr als sieben Prozentpunkte niedriger als im Durchschnitt der OECD-Länder, so das Ergebnis.

Wie lautet das Fazit?

Im Vergleich mit anderen Industrieländern sei das Wachstum der realen öffentlichen Sozialausgaben in den vergangenen 20 Jahren unauffällig gewesen, stellen die Autor*innen fest. Was bedeutet, dass die Staats- und Sozialausgaben in Deutschland im internationalen Vergleich nicht besonders hoch und „zuletzt auch keineswegs stark gewachsen“ sind.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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2 Kommentare

Gespeichert von max freitag (nicht überprüft) am Di., 20.02.2024 - 09:18

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Sozialstaat, wie er sich heute gibt, entspricht nach Ansicht vieler Fachleute noch lange nicht dem Sozialstaatsgebot des GG. Schneider, vom PWV ist hier der geborene Zeuge. Wir brauchen ein mehr, und auch ein Meer an Sozialleistungen, um allen Menschen, nicht nur den zu uns kommenden Männern, ein menschenwürdiges Leben mit Dach über dem Kopf zu gewährleisten. Dazu muss auch die Stigmatisierung des Sozialleistungsbezugs beendet werden, die gerade wieder fröhlich auferstanden ist mit der Bezahlkarte für die schutzsuchenden Männer. Warum überlassen wir hier den Grünen die Wahrung dieses Grundrechts. Die Bezahlkarte muss weg, und das Festhalten der Grünen am bundesgesetzlich vorgeschriebenen Vorrang der Barleistung (also: die Sicherstellung des Scheitern der Bezahlkarte via Rechtsweg) hätte auch der SPD gut zu Gesicht gestanden. Jetzt machen die Grünen hier den Punkt.

Gespeichert von Rudolf Isfort (nicht überprüft) am Do., 22.02.2024 - 10:18

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Um die Frage der Überschrift zu beantworten, kann man die „Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung“ messen (26,7%) oder an den öffentlichen Sozialausgaben der OECD-Länder (Drittletzter), an den Steigerungsraten in ausgewählten Ländern, an der Staatsquote (48,2%), usw.
Alle diese Zahlen sind etwas für Spezialisten. Der „Sozialstaat“, den die Bundesregierung beeinflussen kann, steht im Bundeshaushalt, der 2023 ca. 445,2 Mrd. € groß war. Die Ausgaben für „Arbeit und Soziales“, entscheidende Position für den „Sozialstaat“, machten 166,2 Mrd. € aus, belegten also 37,3% der bundesstaatlichen Ausgaben. Ist das zu viel, zu wenig? Sicher ist, dass der „Sozialstaat“ von vielen Akteuren beschnitten werden wird – und ich spreche nicht einmal von CDU und FDP.

Die Zeitenwende, die Olaf Scholz eingeläutet hat und die in einen fast religiösen Überbietungswettbewerb für Rüstungsausgaben bei allen unseren Wortgewaltigen mündete, förderte nicht nur ein Bundeswehr-Sondervermögen - gemeint ist ein schuldenfinanzierter Ausgabentopf von 100 Mrd. € (, manche wollen den Topf auf 300 Mrd. € aufstocken) -, sondern auch das Anwachsen der „Verteidigung“ auf mindestens 2% vom BIP (Scholz). Wobei Pistorius, der unsere Soldaten auch im Südchinesischen Meer und auf allen Handelswegen präsent sehen will, gar „drei oder sogar 3,5 Prozent erreichen“ will. Finanziert werden muss der Haushalts-Posten „Verteidigung“ ab 2025/26 aus den regulären Einnahmen des Bundes. Was das bedeutet kann man leicht am Haushalt 2023 ablesen.

Der Bundeshaushalt betrug 2023 etwa 445,2 Mrd. €. Unsere „Verteidigung“ war uns 50,1 Mrd. € wert. Hätten wir das 2-Prozentziel nicht aus dem Sondervermögen finanziert, dann hätte der Posten „Verteidigung“ 82,4 Mrd. € betragen, folglich, da Steuererhöhungen ausscheiden, 32,3 Mrd. € bei anderen Haushaltsposten gekürzt werden müssen. Bei einem selbstauferlegten Nato-Ziel von 2,5% hätten wir für "Verteidigung", oder „in unsere Sicherheit investieren“, wie es jetzt heißt, 103,1 (+ 53) Mrd. € aufbringen müssen. (Bei 3% lauteten die Zahlen 123,7 (+ 73,6) Mrd. €.)
In einem 445,2 Mrd. € Haushalt 32,3 Mrd. € (oder gar 53 bis 73,6) umzuschichten, ist nicht ganz leicht, denn solche Beträge lassen sich nicht von 20 Mrd.-Budgets abzwacken, also bleibt eigentlich nur der „Sozialstaat“ übrig, vielleicht noch „Digitales und Verkehr“. Klingbeil hat das begriffen und vorausgesagt, dass „die neue Rolle als Führungsmacht Deutschland harte Entscheidungen abverlangen wird– finanzielle auch politische. Wir müssen ... Budgets neu verhandeln“. Das ist so, wenn „nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung ... die Hand, die wir ausstrecken, stark sein muss, (wenn wir) ... der Ukraine und Moldau den Kandidatenstatus auszusprechen und Georgien die Perspektive zu eröffnen“ bereits erledigt haben, obwohl nicht von der Hand zu weisen ist, dass EU- und Nato-Strategie gegenüber der Ukraine eine Ursache für die großen Probleme sind, aus denen wir nicht ohne die Russische Föderation, Hauptverursacher der Probleme, herauskommen. Zusätzlich ist „Russland kein seriöser Partner“, sondern muss sich „fundamental ändern“, ehe es wieder „ein gemeinsames Vorgehen (z. B.) bei Klimafragen oder bei Abrüstung geben kann“ (Klingbeil,14.6./19.10.22). Darum müssen wir auch die Ukraine für unsere Freiheit, für unser Europa kämpfen lassen, bis die Russische Föderation besiegt ist, hoffend, dass dann noch genug Ukraine übrig ist, so dass sich der Krieg gelohnt hat. Daraus folgt:

Es steht nicht gut um unseren Sozialstaat;
es steht nicht gut um Deutschland;
es steht nicht gut um die SPD.