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Aue-Bad Schlema: Wo die Demokratie „mit dem Rücken zur Wand“ steht

Im sächsischen Aue-Bad Schlema stimmt der Stadtrat mehrheitlich für einen Antrag der rechtsextremen „Freien Sachsen“, nur die SPD-Stadträtin enthält sich. Hier zeigt sich, was passiert, wenn die Brandmauer für die Mehrheit keine Rolle mehr spielt.

von Finn Lyko · 23. Mai 2025
Das Rathaus von Aue (Sachsen).

Hier wurde die Brandmauer eingerissen: Ende April 2025 stimmten 21 von 22 Stadträt*innen in Aue-Bad Schlema für einen Antrag der rechtsextremen Freien Sachsen.

Eigentlich überrascht Claudia Ficker nach 15 Jahren in der Kommunalpolitik nichts mehr. Doch nach der Abstimmung im Stadtrat von Aue-Bad Schlema Ende April war sie schockiert. „Ich dachte mir nur: Was war das denn gerade?“ erinnert sich die SPD-Stadträtin. Knapp einen Monat ist es nun her, dass 21 von 22 Stadträt*innen für einen Antrag der rechtsextremen Partei Freie Sachsen stimmten. Ficker war die Einzige, die sich enthielt. Für sie war mit dieser Abstimmung ein Kipppunkt erreicht – und die Brandmauer in ihrer Stadt eingerissen.

Plötzlich stand die Sozialdemokratin alleine da

„Früher haben auch die CDU und die Freien Wähler solche Anträge abgelehnt, aber jetzt stand ich da plötzlich als Einzige da – das war das Erschreckende für mich“, berichtet Claudia Ficker im Gespräch mit dem „vorwärts“. Alle anderen, von der AfD, über die CDU bis zur Linken, stimmten für den Entschließungsantrag der Rechtsextremen mit dem Titel „Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Bewältigung der Migrationssituation in Aue-Bad Schlema“.

Im Wesentlichen werden darin eine dauerhafte Erhöhung der Polizeipräsenz in der Innenstadt und ein Quasi-Aufnahmestopp von Geflüchteten in Aue-Bad Schlema gefordert. Da letzteres aber nicht auf kommunaler Ebene entschieden wird, kann der Stadtrat lediglich den Oberbürgermeister per Beschluss dazu auffordern, sich beim Landrat und den zuständigen sächsischen Landespolitiker*innen für einen solchen Aufnahmestopp einzusetzen – die tatsächliche Wirksamkeit lässt sich nicht absehen.

Postplatz in Aue-Bad Schlema schon lange umstritten

Maßgeblich verantwortlich für die gesamte Debatte ist aus Claudia Fickers Perspektive vor allem der Postplatz in Aue-Bad Schlema. Schon lange war er ein Ort der Gewalt und der Drogenkriminalität; bei der Polizei sei er als sogenannter gefährlicher Ort gelistet, erzählt sie. Vor Jahren wurde er bereits zur Alkoholverbotszone erklärt.

Doch auch in der jüngeren Vergangenheit kam es hier immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, an denen, so Ficker, zuletzt offenbar überwiegend junge Migranten beteiligt waren. Dass man sich um die Sicherheit im Ort sorge, verstehe sie, erzählt die Stadträtin – zumal der Postplatz in der Nähe einer Grundschule liegt und andere Kinder hier in den Bus zu ihrer Schule steigen. Einen Grund dafür, dem Antrag der Rechtsextremen zuzustimmen, sieht sie darin aber trotzdem nicht.

Auch auf einer inhaltlichen Ebene sei sie mit dem Antrag nicht einverstanden, meint Claudia Ficker. In ihm wird nämlich unter anderem behauptet, dass in Aue-Bad Schlema „im Zusammenhang mit der aktuellen Migrationssituation eine Notlage besteht“. Ficker sieht das anders, ihrer Meinung sei die Integration durch einen Fokus auf Sozialarbeit machbar. Rückhalt erfahre sie dafür in der Politik jedoch nicht, berichtet sie: „Wenn ich im Stadtrat sage, dass wir keine Notlage haben, dann schreit es mir nur entgegen, dass ich mal aufwachen müsste.“

Freie Sachsen: Wurzeln in der ehemaligen NPD und dem Anti-Corona-Protest

Begriffe wie die „Notlage“, aber auch das „Überfremdungsproblem“, von dem im Antrag der Freien Sachsen die Rede ist, sind dabei keine zufällig gewählten Begriffe. Sie sind Teil rechtsextremer Rhetorik und scheinen vielmehr von der ideologischen Überzeugung der Kleinpartei zu zeugen. „Wenn man sich das Führungspersonal der Freien Sachsen anschaut, sieht man, dass sie meisten vorher in der NPD aktiv waren“, erklärt Johannes Kiess, stellvertretender Direktor des Else Frenkel-Brunswik Instituts der Universität Leipzig. Er forscht unter anderem zu rechtsextremen Einstellungen und Verschwörungsmentalität und weiß: Bei den Freien Sachsen greift beides ineinander.

Nicht ohne Grund wurde die Partei 2021 – also mitten in der Corona-Pandemie – gegründet. In erster Linie seien die Freien Sachsen eine Protestpartei, erklärt Kiess. In Parlamenten spielten sie kaum eine Rolle, jedoch nutzen sie die Informationen aus der Kommunalpolitik, um für ihre Demonstrationen zu mobilisieren und andere Bürgerproteste gezielt zu unterwandern. Diese richteten sich zunächst vor allem gegen die Corona-Politik, später auch beispielsweise gegen die Positionierung der Bundesregierung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine.

„Der Name ‚Freie Sachsen‘ hat durchaus einen strategischen Grund, denn das klingt erstmal nicht nach Nazi“, erklärt Kiess. Die gleichzeitigen Assoziationen zu Freiheit und einem mitschwingenden Lokalpatriotismus sollen sowohl Rechte als auch Verschwörungsgläubige ansprechen.

Gründungsmitglied der Freien Sachsen auch heute noch in der NPD

Was zunächst brandgefährlich klingt ist aber noch lange kein Massenphänomen, meint Johannes Kiess. „Die Freien Sachsen versuchen, sich als Bewegung größer zu machen, als sie tatsächlich sind“, sagt Kiess, und: „Sie haben zwar Abgeordnete in verschiedenen Gemeinderäten, aber das ist bei Weitem nicht flächendeckend.“ Auch die Teilnehmer*innen-Zahlen bei ihren Protesten waren bereits zum Ende der Coronapandemie stagniert.

In Aue-Bad Schlema sind sie nach der AfD und der Freien Wählervereinigung Aue jedoch die drittstärkste Kraft im Stadtrat. Der Vorsitzende der Fraktion der Stadtratsfraktion der Freien Sachsen, Stefan Hartung, verfügt nach eigenen Angaben über eine Doppelmitgliedschaft: Laut seiner Website ist er seit 2005 Mitglied bei der früheren NPD, heute „Die Heimat“, und gleichzeitig eines der Gründungsmitglieder der Freien Sachsen.

Das passt ins Bild, erklärt Johannes Kiess, denn: „Die Freien Sachsen sind in Aue-Bad Schlema eine neue Form neonazistischer Kräfte in der Region.“ Dass nun selbst die Mehrheit der demokratischen Kräfte im Stadtrat einem Antrag dieser rechtsextremen Partei zustimmen sei „natürlich ein wahnsinniger Tabubruch“, so der Experte, jedoch bei Weitem kein Einzelfall in Deutschland.

Die Demokratie „mit dem Rücken zur Wand“

Darin liegt laut Johannes Kiess auch die größte Gefahr für die Demokratie, denn jede gemeinsame Abstimmung mit rechtsextremen Parteien, auch auf kommunaler Ebene, normalisiere sie weiter. Dazu komme im Fall der Freien Sachsen die mancherorts große Präsenz durch ihre Proteste. Diese, so Kiess, „erzeugen für demokratische Akteure vor Ort das Gefühl, dass demokratische Positionen nicht mehr selbstverständlich sind, und dass sie gegen eine Mehrheit arbeiten müssen.“

Dieses Gefühl kennt Claudia Ficker nur zu gut. Die Abstimmung mit den Freien Sachsen sei dabei „nur die absolute Spitze“, so die Stadträtin. Sie habe als Teil der demokratischen Kräfte im Stadtrat schon seit geraumer Zeit das Gefühl, „mit dem Rücken zur Wand“ zu stehen, erzählt sie. Für den Mut, den es braucht, in einem kleinen Ort, in dem sich alle kennen, als Einzige öffentlich dagegenzuhalten, käme von der Parteiführung aus Berlin bislang nicht mehr als ein Schulterklopfen bei den seltenen Besuchen vor Ort.

Das alles mache auf Dauer mürbe. Hoffnung auf ein Umdenken in ihrem Parlament, aber auch im Ort, hat die SPD-Stadträtin nach der Abstimmung über den Antrag der Freien Sachsen kaum noch. Erschreckend viele Menschen fänden rechtsextreme Parteien gut, beobachtet sie. „Die werden nicht gewählt, obwohl sie rechtsextrem sind, sondern genau deshalb“, während alle anderen mehr und mehr verstummten.

Autor*in
FL
Finn Lyko

ist Volontärin in der vorwärts-Redaktion.

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