Buch „On Leadership“: Tony Blair stellt sein Abc der Macht vor
Er muss es ja wissen: Tony Blair legt mit „On Leadership“ eine Art Gebrauchsanweisung für Macht vor. Neben Banalem finden sich in dem neuen Buch des früheren britischen Premiers auch kluge persönliche Einsichten.
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Unstrittig ist: Tony Blair gehört zu den ganz Großen. Die Frage ist nur in welcher Hinsicht. Staatsmann? Sozialdemokrat? Vordenker? Brückenbauer? Oder Lügner und Kriegsverbrecher? Die Debatten über die politische Bilanz des früheren britischen Spitzenpolitikers reißen jedenfalls nicht ab.
Wie soll man ihn heute einordnen – den ehemaligen Premierminister des Vereinigten Königreichs, den Erfinder der „Neuen Mitte“, noch bevor es den Begriff in Deutschland gab, den Taufpaten von New Labour? War er Lichtgestalt oder doch eher Totengräber der linken Mitte?
Zu Tony Blair drang nichts mehr durch
Der Autor dieser Zeilen erlebte vor gut 15 Jahren fast volle dreieinhalb Minuten in Gegenwart von Blair höchstselbst. Damals ergab sich in Jerusalem die Gelegenheit zu einem Austausch mit dem Repräsentanten des „Nahost-Quartetts“. In einem eleganten Hotel im Ostteil der Stadt ärgerten sich Palästinenser*innen, der einzige greifbare Effekt von Blairs Tätigkeit sei ein weiterer Checkpoint in den besetzten Gebieten – nämlich der vor seinem Büro im American Colony Hotel. Schranken, Stacheldraht, Security – und dahinter der Mann, der den Irakkrieg mitzuverantworten hatte.
In der Erinnerung des Autors haben sich vor allem Blairs Augen eingebrannt: ein Blick voller Distanz. Da drang nichts mehr durch. „Ist es das, was die Macht mit denen anstellt, die sie in ihren Klauen hält?“, regte sich eine Frage. Oder war das nur ein Fall von Audienz-Ehrfurcht, die durch Naserümpfen kompensiert werden wollte?
15 Jahre später erscheint Blairs Buch „On Leadership“ (deutsch: „Über Führung“): knapp 350 Seiten voller Lehren und Lektionen von jemandem, der, wie gesagt, in mehr als einer Hinsicht einmal sehr groß war. Immerhin: ein ungewöhnliches Buch. Jedenfalls nicht einfach die Memoiren eines selbstverliebten Ehemaligen, der das Hineinregieren aus dem Off nicht lassen kann (wie etwa jüngst Angela Merkel im Fall der Union), sondern ein eloquent geschriebener Leitfaden für Weltenlenker und solche, die es werden und vor allem bleiben wollen. „Ein wunderbares Geschenk für Freunde mit Staatspräsident-Ambitionen“, lobte ein britischer Rezensent das Werk.
Eine umstrittene Bilanz
„Was ich als Leader erreicht habe, ist umstritten und wird diskutiert. Aber darum geht es in diesem Buch nicht“, stellt Blair gleich zu Beginn klar. „Was hier angeboten wird, ist kein Beispiel, sondern eine Lektion. Natürlich sind meine Fehler und Erfolge Teil des Kontexts für das, was folgt. Aber sie sind weder der Ausgangs- noch der Endpunkt. In diesem Buch geht es um Lektionen in Governance, um Führung – und darum, wie Entscheider zu echten Führungskräften werden.“
Blairs Tipps und Tricks für Change Maker beruhen auf seiner Beobachtung, dass sich politische Führung häufig in drei Phasen vollzieht: frisch an der Macht die erste Phase, nämlich die des aufmerksamen Zuhörens. In Phase zwei glauben Entscheider*innen, alles zu wissen. Und schließlich gebe es eine dritte Phase der Reife, in der „mit mehr Demut wieder zugehört werde“. Das Ziel des Buches, so Blair, sei es, diese Lernkurve zu verkürzen.
Vieles in den 40 Kapiteln ist treffend formuliert – etwa zur Bedeutung von Strategie und Taktik, von Teamarbeit, von klugem Zeitmanagement („niemals länger als eine Stunde bei einer Veranstaltung bleiben“) oder von der ja nicht nur im Königreich zu beobachtenden zeremoniellen Seite von Politik („Internationale Besucher mögen das Theater. Aber Du darfst es nicht mögen. Denn sonst wirst Du einen Großteil Deiner Zeit damit verbringen“).
Erinnerungen an Politik ohne Twitter
Immer wieder fließen dabei persönliche Erlebnisse mit Figuren der Zeitgeschichte in die Reflektionen ein. Tipps und Tricks gibt es von Shimon Peres bis Bill Clinton. Manche der anekdotischen Rückblicke, die gerne mit „Als ich Premierminister war …“ eingeleitet werden, zeigen dabei auch en passant, wie rasant sich Politik verändert hat.
Wie etwa an dieser Stelle: „Als ich Premierminister war, existierte kein Twitter. Ich hatte kein Mobiltelefon (etwas, für was ich im Nachhinein immer dankbar war), das Internet war noch jung, Amazon war einfach ein Online-Buchladen, von Netflix hatte noch nie jemand gehört. Aber was noch wichtiger ist: Künstliche Intelligenz war ein theoretisches Konzept, keine reale Revolution.“ Heute ist tatsächlich kaum noch vorstellbar, wie in der vordigitalen Zeit Politik gemacht wurde.
Gerade Blairs Ratschläge zur Parteipolitik und zum Gewinnen gesellschaftlicher Mehrheiten sind bedenkenswert. Wie könnte es anders sein bei jemandem, der dreimal (1997, 2001 und 2005) zum Premierminister gewählt wurde?
Doch wer eine Abrechnung mit seinen weniger erfolgreichen Nachfolgern an der Spitze von Labour erwartet, wird enttäuscht. Jeremy Corbyn etwa wird kaum einmal erwähnt. Nur diesen Hinweis konnte sich Mr. Mitte offenbar nicht verkneifen: „Immer wieder gab es die absurde Behauptung, dass die Menschen nur deshalb für die Tories stimmten, weil Labour nicht links genug war. Warum sich die Briten so irrational verhalten haben sollten, wurde nie erklärt. Aber der Glaube an diesen Wahn war absolut.“ Erst jetzt sei die Labour Party, „zum Glück für diejenigen, die sie brauchen, zur Vernunft gekommen“.
Blairs Plädoyer für die Mitte
Mehr als einmal kehrt Blair in seinem Buch zu einem dezidierten Plädoyer für einen Kurs der Mitte zurück, mal mehr und mal weniger überzeugend. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es nicht um links gegen rechts geht, sondern um richtig gegen falsch", verkündet Blair an einer Stelle. „Eine solide makroökonomische Politik ist die Voraussetzung für wirtschaftlichen Fortschritt.“ Technokratie? Ja, bitte.
Ein Kapitel trägt gar die Überschrift „Plague of Ideology“ (deutsch: „Die Seuche der Ideologie“). Darin stellt Blair klar: „Das Wort ‚technokratisch‘ bedeutet im Grunde, dass Menschen mit Fachwissen dieses Wissen nutzen, um praktische Probleme zu lösen; das heißt, Technokraten bringen die Dinge zum Laufen.“ Da fragt man sich dann schon, warum ein Buch wie „On Leadership“ überhaupt noch geschrieben werden musste.
Immer wieder zeigt sich auch ein technischer Zukunftsoptimismus, der heute aus der Zeit gefallen wirkt. Insbesondere in Bezug auf künstliche Intelligenz fragen sich kritische Leser*innen, woher der 71-Jährige seine Zuversicht nimmt. Wollen wir wirklich KI nutzen, um Gerichtsentscheidungen zu vereinfachen, wie Blair vorschlägt? „KI könnte etwa entscheidend sein, um Entwicklungsländern zu helfen, Korruption zu bekämpfen“, meint der Ex-Labour-Chef.
Tony Blair: Widerstand gegen KI ist zwecklos
Aber ohnehin sei Widerstand zwecklos: „Die Antwort besteht nicht darin, der Revolution zu widerstehen oder sie zu leugnen, sondern sie vollständig zu verstehen, ihre Chancen zu nutzen und ihre Risiken zu mindern. Lassen Sie nicht zu, dass Angst oder die unvermeidlichen Kampagnen gegen diese Revolution Sie zögern lassen. Lassen Sie das Gefühl der Möglichkeiten den Geist der Veränderung beleben.“
Ist das noch Politik oder schon Predigt? Kombiniert mit Perlen wie „Wandel ist schwierig“ klingt es dann bisweilen doch eher nach Motivationssprech aus der Grußkartenindustrie denn nach tiefer Analyse.
Doch es bleibt auch Raum für Selbstkritik. So bekennt Blair über Irak und Afghanistan: „Wir haben fundamental falsch eingeschätzt, dass Nationen nach einer Invasion einfach in die Demokratie überführt werden könnten – trotz fehlender staatlicher Institutionen und trotz des Vorhandenseins religiöser Konflikte. Dies war ein Fall von Hybris im Sinne einer Geringschätzung anderer oder eines übersteigerten Vertrauens in die Fähigkeit westlicher Führung.“
Sicher: Zu Kreuze kriechen klingt anders. Aber immerhin. So viel Selbstkritik wünscht man sich bei manchen aktuellen politischen Memoiren vergeblich. Und das ist vielleicht nicht groß, aber ganz sicher auch nicht klein.
Tony Blair: On Leadership. Lessons for the 21st century, Crown 2024, 341 Seiten
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York und ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Zuletzt erschien vom ihm „Vom Ende der Freiheit. Wie ein gesellschaftliches Ideal aufs Spiel gesetzt wird“ (Dietz 2021).