Kultur

Buch „Gradual“: Warum Veränderung kleine Schritte braucht

Greg Berman und Aubrey Fox legen mit „Gradual“ eine Verteidigung der Politik der kleinen Schritte vor. In stürmischen Zeiten ist das klarsichtig und wohltuend.

von Michael Bröning · 8. Januar 2024
Klarsichtig und wohltuend: „Gradual“ ist eine Verteidigung der Politik der kleinen Schritte.

Klarsichtig und wohltuend: „Gradual“ ist eine Verteidigung der Politik der kleinen Schritte.

In einem „Hägar der Schreckliche“ Cartoon aus den achtziger Jahren bereitet der norwegische Wikinger einen seiner regelmäßigen Raubzüge nach Paris vor. Unter der Parole „Sieg oder Tod!“ soll in See gestochen werden, wenn es nach Hägar geht. Doch Kumpan Sven Glückspilz– und die restliche Wikingerbande – sind da ganz anderer Ansicht. „Größtmöglicher Erfolg – oder eine annehmbare Alternative!“, lautet die von ihnen favorisierte Losung.

Der Gag bringt einen Konflikt auf den Punkt, der auch das Ringen um politische Veränderung von jeher begleitet: Der Gegensatz zwischen radikaler Kompromisslosigkeit und graduellem Wandel. Was ist angemessen, was ist durchsetzbar und was liefert Ergebnisse? 

Allgegenwärtiger Alarmismus

Zu diesen Fragen haben die amerikanischen Think Tanker Greg Berman and Aubrey Fox nun einen aufschlussreichen Zwischenruf vorgelegt: „Gradual. Argumente für schrittweisen Wandel in einer radikalen Zeit“, lautet das bei Oxford University Press bislang nur auf Englisch erschienene Werk. „Leidenschaftlich und überzeugend“, urteilt der Economist. Ein „unwiderlegbares Argument“, meint der Christian Science Monitor. 

Ausgangspunkt der Autoren, die sich jahrelang für Strafrechtsreformen in den Vereinigten Staaten engagiert haben, ist die Diagnose eines allgegenwärtigen Alarmismus. Zwar sind die politischen Herausforderungen der Gegenwart real. Doch verändert habe sich nicht so sehr Natur und Ausmaß der Probleme, sondern vielmehr die politik-mediale Diskussion. Sie begünstige permanente Katastrophisierungen. „Die einzige Art gehört zu werden, ist lauter zu schreien als alle andere“, meinen Berman und Fox. Die schrille Dauerbeschallung aber führe an den politischen Rändern zu einem bezeichnenden Phänomen: Denn Links- und Rechtsaußen könnten sich derzeit auf so gut wie gar nichts verständigen. Außer darauf, dass alles für alle sofort ganz anders werden muss. 

Zeit also für radikales Durchgreifen, für Nägel mit Köpfen – für Revolution, nicht Evolution – so der Konsens weit links und weit rechts und natürlich in den sozialen Medien.

Keine Mehrheit für radikale Politik

Diese Art der Debatte aber ist gefährlich, denn – daran erinnern die Autoren – die tatsächliche Bilanz radikaler Veränderungsversuche ist allzu oft desaströs. „Großer Wandel bedeutet unausweichlich große Belastung und große Belastung führt zu großem Backlash“, warnen sie. Von seltenen Ausnahmen abgesehen seien Versuche bahnbrechenden Wandels ein „Rezept für eine Katastrophe“.

Unerwartete Konsequenzen, eine unüberschaubare Fülle von Fakten und fehlender Konsens über das, was unsere gemeinsame Realität überhaupt noch ausmacht: All das spreche dafür, statt auf den großen Wurf radikaler Veränderungen auf einen flexiblen Ansatz des Schritt für Schritt zu setzen. 

Und zwar auch und gerade, weil der in Aktivistenkreisen verbreitete Wunsch nach Radikalreformen bei gesellschaftlichen Mehrheiten auf taube Ohren stößt. Die Meinungsforschung belege schließlich immer wieder, dass schrittweise Reformen breiten öffentlichen Rückhalt genießen. Wandel mit der Brechstange jedoch werde über Einkommens-, Geschlechter- und Altersgrenzen und sogar über politische Gräben hinweg abgelehnt. Jung, alt, männlich, weiblich, reich und arm: Radikale Politik findet schlichtweg keine Mehrheit.  

Kleine Schritt sind die Lösung

Nur habe sich dies in der politischen Klasse noch nicht überall herumgesprochen. Denn paradoxerweise seien graduelle Reformen genau in dem Moment aus der Mode gekommen, in dem sie am stärksten gebraucht werden. „Entscheidungsträger auf beiden Seiten des politischen Spektrums, politische Beobachter, Wissenschaftler und Aktivisten behaupten, die Öffentlichkeit hungere nach radikalem Wandel. Doch die Daten zeigen, dass ein solcher Hunger nicht existiert.“ 

Soll also einfach alles beim Alten bleiben? Nein. Denn die Autoren stellen klar, dass Skepsis gegenüber radikalen Hauruck-Lösungen nicht mit dem Festhalten am Status Quo zu verwechseln ist. Die Menschen wollen Wandel, aber sie wollen den Wandel der kleinen Schritte, kontrolliert, abwägend und verantwortungsbewusst.  

Doch ist das nicht zu kurz gesprungen angesichts der drängenden Probleme? Berman und Fox machen das Gegenargument auf: Nur schrittweises Vorgehen sei nachhaltig, belastbar und demokratisch durchsetzbar. Gerade in Zeiten der Polarisierung und der Unsicherheit seien kleine Schritte nicht das Problem, sondern die Lösung. Das zeige nicht zuletzt der Blick auf die historische Leistung schrittweiser Neuerungen. 

Vier Kernwerte für eine Politik der Veränderung

Um diese These zu untermauern, richtet das Autorenduo den Blick zurück auf erfolgreiche Reformen der amerikanischen Vergangenheit und zeigt, wie an entscheidenden Stellen Veränderungen eben nicht durch radikales Durchgreifen, sondern durch beharrliche und stückweise Verbesserungen erzielt wurden. Reformen im Strafsystem, in der Einwanderungspolitik und selbst in der Einführung des Sozialversicherungssystems im Rahmen des New Deals waren entgegen verbreiteter Annahme eben keine Holterdiepolter-Momente, die gegen Mehrheiten durchgedrückt wurden. Im Gegenteil: Sie waren Ergebnis stetiger und mühsamer Annäherungen an eine Lösung. „Es gibt keine Abkürzung nach Utopia“, fasste Präsident Franklin D. Roosevelt seinen Glauben an graduelle Reformen zusammen.

Nach vorne gerichtet entwirft das Buch dabei vier Kernwerte, die für eine erfolgreiche Umsetzung einer Politik der kleinen Schritte als Leitbilder fungieren: Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Nuanciertheit und – jawohl – Respekt. Mit diesen Werten – so das Argument – könne Wandel angesichts komplexer Probleme politisch nachhaltig und demokratisch abgesichert erreicht werden, ohne dabei unrealistische Erwartungen zu wecken oder massiven Widerstand heraufzubeschwören. 

Ein Blick über den us-amerikanischen Tellerrand wäre gut gewesen

Soll wer Visionen hat also zum Arzt gehen? Nein. „Natürlich brauchen wir weiterhin Träumer und Unruhestifter, die die sprichwörtliche Mondlandung ins Visier nehmen, den Krebs besiegen und den Hunger beenden wollen“, meinen Berman und Fox. Doch den „Versuchungen der simplen Lösungen“, dem „Sirenengesang des Schnellschusses“ dürfe verantwortliche Politik eben nicht erliegen. Politik überschätze ihre Fähigkeiten auf kurze, doch unterschätze ihre Fähigkeiten auf lange Sicht. Denn kleine Verbesserungen summieren sich zu wirklichem Wandel. Kein Schelm, wer sozialdemokratisch dabei denkt.

Doch gerade aus sozialdemokratischer Sicht bleiben die im Buch vorgetragenen Argumente am Ende ein bisschen dünn. Die Beispiele spiegeln immer wieder den beruflichen Hintergrund der Autoren im US-Strafsystem. Das ist oft erhellend. Doch bei einem Werk mit so grundsätzlichem Anspruch wäre ein Blick über den Tellerrand – und über den Atlantik – so sinnvoll wie naheliegend. Schlielich soll es in Europa hier und da politische Kräfte geben, die seit geraumer Zeit auf schrittweise Verbesserungen statt auf die Holzhammer-Methode setzen – mit durchaus vorzeigbaren Resultaten. Hier klafft eine bedauerliche Leerstelle, die auch ohne Wallfahrt nach Bad Godesberg leicht zu schließen gewesen wäre.

Dennoch: Das Buch bleibt wichtig. Denn gerade in Zeiten, in denen die Unzufriedenheit wächst und die Rufe nach radikalen Patentrezepten nicht nur in den Vereinigten Staaten zunehmen, liefert es eine wohltuende Erinnerung an die Tugend der Ausgewogenheit. Alles oder nichts, endlich durchgreifen, Sieg oder Tod? Nein: Ein Lob dem Gradualismus! Größtmöglicher Erfolg – oder eine annehmbare Alternative! Das klingt vielleicht nicht optimal als Parole für einen Wikingerzug die Seine hinauf aber ist ansonsten nicht die schlechteste Devise für Politik, Reformen und den ganzen großen Rest.

Greg Berman & Audrey Fox: Gradual. The Case for incremental change. Oxford University Press, 2023, 227 Seiten.  

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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