Kultur

„Nuclear War. A Scenario.” Ein Buch, um zu lernen, die Bombe zu hassen

Dieses Buch zu lesen, löst Übelkeit und Abscheu aus. In „Nuclear War. A Scenario.” spielt die reommierte Investigativjournalistin Annie Jacobson einen atomaren Angriff auf die USA durch – mit all seinen schrecklichen Folgen. Ein wahres Protokoll des Grauens.

von Michael Bröning · 25. Dezember 2024
In „Nuclear War. A Scenario.” spielt die reommierte Investigativjournalistin Annie Jacobson einen atomaren Angriff auf die USA durch

In „Nuclear War. A Scenario.” spielt die reommierte Investigativjournalistin Annie Jacobson einen atomaren Angriff auf die USA durch.

Finger weg von diesem Buch! Annie Jacobsens aktueller Bestseller „Nuclear War: A Scenario“ löst Schweißausbrüche, Herzrasen, schlaflose Nächte und ein allgemeines Verzweifeln an der furchtbaren, ausweglosen Banalität der militärischen Logik aus. Das gilt besonders in einer Zeit, in der Oppositionsführer über das ultimative Niederringen atomar bewaffneter Mächte schwadronieren und mancherorts ernsthaft erwogen wird, die friedliche Nutzung der Kernenergie auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, nur um zugleich die atomare Bewaffnung der Bundeswehr als alternativlos herbeizureden.

Nur ein kleiner Schritt vor der Katastrophe

Es ist immer wieder erstaunlich: Wir leben in einer Ära, in der Vorsicht nicht weit genug gehen kann – stets die COVID-Maske griffbereit und beim Gemüsekauf auf den CO2-Abdruck achten! Andererseits wird das Ende der menschlichen Zivilisation in aktuellen militärischen Konflikten als kalkulierbares Risiko dargestellt, das in der Exekution moralischer Maximalvorstellungen nicht nur rational, sondern sogar tugendhaft erscheint. Der Einsatz taktischer Nuklearwaffen in der Ukraine? „Bange machen gilt nicht!” Denn sicher: Der Gegner ist irre genug, um in das Baltikum einzumarschieren aber wird vor der nuklearen Option immer rational zurückschrecken.

Die Lektüre von „Nuclear War“ führt zu einer beklemmenden, Einsicht: Nüchtern betrachtet hat Politik im 21. Jahrhundert nur eine einzige Aufgabe – und diese ist seit Beginn des Atomzeitalters gleich geblieben: die Verhinderung eines nuklearen Armageddons. Dennoch stehen wir heute nur einen kleinen Schritt vor einer Katastrophe, in der Vögel brennend vom Himmel fallen, unsere Kinder schreiend im Staub liegen und die Zivilisation in die Dunkelheit der Geschichte zurückfällt. „Der vierte Weltkrieg wird wieder mit Steinen und Speeren ausgetragen“, daran erinnert Jacobsen im Rückgriff auf Nikita Chruschtschow.

Das Uhrwerk der Vernichtung beginnt zu ticken

Noch einmal: Es macht nicht nur keine Freude, dieses Buch zu lesen – es löst Übelkeit aus und Abscheu. Denn es ist weniger eine stringente Argumentation als vielmehr einfach das Protokoll einer schlafwandlerischen Selbstabschaffung, das auf Dutzenden von Interviews und auf der Sichtung von lange geheimgehaltenen Dokumenten beruht. Beim Lesen wird nachvollziehbar und erlebbar, wie die schwarze Milch der atomaren Katastrophe durch scheinrationale Automatismen und vermeintliche Unausweichlichkeiten in die Welt gelangt. 

Das journalistisch geschriebene Buch folgt dabei keinem roten Faden außer diesem Szenario: Aus ungeklärten Umständen registrieren die Frühwarnstationen des US-Militärs einen nuklearen Angriff auf die amerikanische Ostküste – offenbar mit Ursprung in Nordkorea. Wenige Minuten später erfolgt ein zweiter Angriff auf einen Atomreaktor samt Wiederaufbereitungsanlage in Kalifornien. Jacobsen spekuliert nicht über die Ursachen. Es geht allein um das Was, das Wie und das Was dann. Das Uhrwerk der Vernichtung beginnt gnadenlos zu ticken.

30 Sekunden für die Abwicklung der Zivilisation

Von der ersten Warnung ausgehend zeichnet das Buch den Sog des fortgesetzten Irrsinns nach: Eine Aneinanderreihung von Kurzbesuchen in den steinernen Manifestationen der „Mutually Assured Destruction” (MAD) folgt. Die Leserinnen und Leser werden mitgenommen in die Frühwarnsysteme des Pazifiks, die „Minuteman“-Raketensilos des mittleren Westens, die unterirdischen „War Rooms“ des Todes und immer wieder in die absurden Verästelungen der strategischen Kommandostrukturen von STRATCOM und den Cheyenne Mountains über das Pentagon bis ins Weiße Haus. Getrieben wird all das von der unerbittlichen Schnelligkeit der Entwicklungen: 30 Sekunden für eine Entscheidung über Vergeltung. 30 Sekunden für die Abwicklung der Zivilisation. 30 Sekunden, in denen die Aufklärung endgültig in ihr Gegenteil umschlägt – und am Ende nur Asche hinterlässt.

Jacobsen macht klar: Fallen in der Dominotheorie der atomaren Eskalation die ersten Steine, geht es im Sekundentakt Schlag um Schlag. Gerade einmal 72 Minuten vergehen im Szenario vom Beginn des Angriffs bis zum nuklearen Armageddon. Wenn Theorien wie „escalate to de-escalate“ erst einmal gescheitert sind, bleibt keine Zeit mehr für Friedensverhandlungen oder für Innehalten. An die Stelle von Weisheit tritt der Automatismus. Handlungsempfehlungen und Optionen, die ihre eigenen Zwangsläufigkeiten mit sich bringen: Use them or lose them.

Differenziertheit trotz moralischer Klarheit

Ergänzt wird das Protokoll des Grauens durch Exkurse zu Strahlenkrankheit, nuklearen U-Booten, Fallout, Zerstörungsradien, Theorien der Abschreckung, Launch-Systemen von Interkontinentalraketen, Zweitschlag-Kapazitäten und zu Spieltheorie. Dazwischen schildert Jacobsen eindrücklich-fiktive Szenen, wie die eines kalifornischen Rinderfarmers, dem nach einem Lichtblitz am Horizont die Kleider vom Leib gerissen werden, während eine tödliche Strahlendosis seine Knochen durchdringt. Kind des 21. Jahrhunderts lädt das Opfer den sich bildenden Atompilz in Echtzeit in die sozialen Netzwerke. 

Eine der vielen Stärken des Buches ist Differenziertheit trotz moralischer Klarheit. Es geht der Autorin nicht darum, Individuen zu beschuldigen. „Einen Atomkrieg auszutragen ist Wahnsinn. Jede einzelne Person, die ich für dieses Buch interviewt habe, weiß das“, schreibt Jacobsen. „“Jede einzelne Person. Atomwaffen sind irrational. Und doch: Here we are.“ Das System ist das Problem, das macht das Buch immer wieder deutlich. Ist dies Methode, so ist es doch Wahnsinn.

Am Ende dieses Protokolls aus Missverständnissen und vermeintlichen Unabänderlichkeiten steht der globale Exitus – exakt so, wie immer wieder in theoretischen „War Games“ als unausweichliche Konsequenz der einmal entfesselten Vernichtung prognostiziert. Gefolgt nur noch von der Kettenreaktion eines nuklearen Winters. 

Ein Buch wie eine Impfauffrischung

Es gibt Bücher, von denen man sich wünscht, man hätte sie besser nicht gelesen. Dies ist ein solches. Kaufen und lesen Sie es nicht. Aber bitte, kaufen und lesen Sie es. Ja: Die Lektüre ist schwer erträglich – 373 Seiten Todesfuge. Doch vielleicht wirkt sie wie eine Impfauffrischung, um dem Wahnsinn gewappnet zu begegnen und doch noch das Schlimmste zu verhindern? 

„In der Zeit nach einem Atomkrieg“, schreibt Jacobsen, „wird das gesamte Wissen der Welt ausgelöscht sein. Einschließlich des Wissens, dass der Feind eben nicht Nordkorea, Russland, Amerika, China, der Iran oder jemand anderes war, der als Nation oder Gruppe verunglimpft wurde. Es waren die Atomwaffen, die unser aller Feind waren. Seit es sie gibt.“

Ein fulminantes Buch, um sich zu sorgen und um zu lernen, die Bombe zu hassen.

Annie Jacobsen: Nuclear War. A Scenario. Dutton, 2024 373 Seiten

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Michael Bröning

ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

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