Kultur

Kinofilm „Jenseits von Schuld“: So leben die Eltern eines Serienmörders

Was ist das für ein Leben, wenn das eigene Kind unvorstellbare Verbrechen begangen hat? Der Dokumentarfilm „Jenseits von Schuld“ porträtiert die Eltern des Serienmörders Niels Högel. Im Interview beschreiben die Regisseurinnen die Motive und Hintergründe ihres Langzeitprojekts.

von Nils Michaelis · 12. September 2024
Jenseits von Schuld

Ein Postkartengruß an den inhaftierten Sohn: das Ehepaar Högel am Nordseestrand.

Niels Högel gilt als der größte Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zwischen 1999 und 2005 tötete der gelernte Krankenpfleger wehrlose Menschen in norddeutschen Kliniken. Für mehr als 80 Morde wurde er rechtskräftig verurteilt. Immer wieder ging seine Geschichte durch die Medien und wurde zum Gegenstand von True-Crime-Produktionen. 

Der Dokumentarfilm „Jenseits von Schuld“ stellt nicht den Täter, sondern seine Eltern in den Mittelpunkt. Damit betreten die Regisseurinnen und Autorinnen Katharina Köster und Katrin Nemec Neuland. Zudem berührt ihr Film Fragen zum gesellschaftlichen und medialen Umgang mit dieser sensiblen Thematik.

Die zentrale Frage des Films ist, wie Eltern mit der schweren Schuld ihres Kindes leben. Warum haben Sie sich ausgerechnet für die Familie Högel entschieden? 

Katharina Köster: Das hat sich zufällig ergeben. Am Anfang stand für uns das übergeordnete Thema. Wenn ich aus Medien von Kapitalverbrechen erfuhr, habe ich mich oft gefragt: Was ist gerade in der Familie der Täterin oder des Täters los? Hat sie dazu beigetragen, dass ihr Kind kriminell geworden ist? Wie erleben die Eltern das Ganze? Zeigt man zu Recht mit dem Finger auf sie? 

Anfang des Jahres 2017 haben wir begonnen, breit zu recherchieren. Es ging darum, Eltern zu finden, die die Schuld ihres Kindes anerkennen. Der Konflikt zwischen Liebe und Schuld war uns wichtig. Viele dieser Eltern schämen sich und meiden den Kontakt mit der Öffentlichkeit. 

Katrin Nemec: Wir sind mit Anwälten, Seelsorgern und Selbsthilfegruppen in Kontakt getreten. Dass wir mit den Eltern von Niels Högel in Kontakt gekommen sind, war somit eher Zufall. Für uns war schnell klar, dass die Högels gute Protagonisten sind, man kann sich mit ihnen als Menschen identifizieren und empfindet sofort Empathie Ihnen gegenüber. 

„Jenseits von Schuld“ soll auch als Gegengewicht zu den täterbezogenen Produktionen über Niels Högel verstanden wissen. Welcher Akzent liegt ihnen dabei besonders am Herzen?

Köster: Wir wollten keinerlei Sensationslust bedienen und auch nicht erreichen, dass jemand sich distanziert und von außen beurteilt. Im Gegenteil: Man soll sich einfühlen und über sich und sein Leben nachdenken. Kein Mensch wünscht sich, dass sein Kind zum Mörder wird, sondern dass es das Beste für sein Leben mit auf den Weg bekommt. Mit diesem Ansatz wollen wir die Zuschauerinnen und Zuschauer abholen. Es ging auch darum, Vorurteile auf den Prüfstand zu stellen.

Wiederholt zeigen sie entsetzten Reaktionen von Högls Eltern, wenn TV-Berichte über ihren Sohn private Dinge thematisieren. Ist ihr Film auch als Medienkritik zu verstehen?

Im Film treten die Medien und auch der Sohn als Antagonisten auf, die auf unterschiedliche Art auf das Leben der Eltern einwirken. Immer wieder haben wir uns gefragt, welche Auswirkungen auch unser Film haben könnte. Daher haben wir sehr früh den Weißen Ring, eine Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität, mit ins Boot geholt. 

Wir wollten verhindern, dass Angehörige befürchten könnten, dass auch wir den Täter in den Mittelpunkt stellen würden. Medienschaffenden muss bewusst sein, dass wahre Geschichten immer auch mit echten Menschen zu tun haben und Betroffene womöglich ein weiteres Mal traumatisieren können.

Katharina Köster

„Für seine Eltern bleibt Niels Högel ihr Kind“, sagt die Autorin und Regisseurin Katharina Köster.

Katharina Köster Jenseits von Schuld

Wie haben Sie das Vertrauen von Högels Eltern gewonnen und dazu gebracht, die Dreharbeiten wie geplant bis zum Ende zu führen? 

Köster: Es hat einige Jahre gebraucht, bis genügend Vertrauen da war. Von Anfang an war klar, dass es uns um die Geschichte der Eltern geht und nicht um ihren Sohn. Das war neu für sie. Wir haben uns mit ehrlichem Interesse und ohne Beurteilungen an sie gewandt. 

Die Aufnahmen mit den Eheleuten haben sich auf die Jahre zwischen 2020 und 2023 verteilt. Immer wieder gab es Momente, in denen ihnen die Kraft ausging und sie sich vorübergehend zurückziehen mussten. Emotionale Grenzsituationen haben wir unmittelbar und gemeinsam aufgearbeitet. Die Högels haben den Film gesehen und ihm das Allerbeste gewünscht.

Nemec: Für die beiden war es nicht leicht, sich so zu offenbaren. Sie haben zugelassen, dass wir sie in vielen Facetten im Umgang mit dem Sohn beobachten. Sie haben sich verletzlich gezeigt und machen sich viele Gedanken, wie der Film von den Menschen und vor allem von Betroffenen aufgenommen wird.

Högels Eltern halten zu ihrem Sohn, sehen aber auch seine Schuld. Können Sie diese Haltung nachvollziehen?

Köster: Als Mutter und Mensch frage ich mich: Kann man die Beziehung zu seinem Kind auflösen? Ich habe großen Respekt vor den Högels, dass sie den beschriebenen Widerspruch stemmen. Dass sie durchhalten, obwohl sie immer wieder an ihre Grenzen stoßen.

Katrin Nemec

Am Anfang der Dreharbeiten war die Filmemacherin Katrin Nemec (hier bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 2017) „fast erschüttert über die Banalität der Telefonate“ zwischen Eltern und Sohn.

Katrin Nemec Jenseits von Schuld

Wie realistisch ist das Bild, das Högels Eltern von ihm haben?

Köster: Wer den Film sieht, muss diese Frage für sich entscheiden. Für seine Eltern bleibt Niels Högel ihr Kind. Auf der anderen Seite stehen seine Verbrechen. Man muss das trennen, um mit der Gesamtlage leben zu können, sagen Psychologen. 

Am Telefon reden sie mit ihm über Alltägliches. Es wäre auch gar nicht denkbar, wenn die Gespräche nur um seine Taten kreisen würden. Als Zuschauer mag man sich an dieser scheinbaren Normalität stoßen, doch auch Straftäter sind Menschen mit einem Alltag.

Nemec: Am Anfang der Dreharbeiten war ich fast erschüttert über die Banalität der Telefonate. Ich hatte mir vorgestellt, dass die Eltern ihn viel härter und in jedem Gespräch mit den Taten konfrontieren. Man darf auch nicht vergessen, dass der Sohn seit mehr als 15 Jahren im Gefängnis sitzt und die Mutter schon lange in therapeutischer Behandlung ist.

Die oft fragil und angespannt wirkende Mutter und der nach außen um Nüchternheit bemühte Vater scheinen verschiedene Weisen gefunden zu haben, mit den Taten ihres Sohnes und den Folgen umzugehen. Wie sehr zehrt all dies an den beiden?

Köster: Ich glaube, der unterschiedliche Umgang mit dem, was ihm widerfahren ist, erklärt, dass dieses Paar noch immer funktioniert. Beide ergänzen sich. Die Mutter redet Klartext, ist mitunter aber auch überfordert. Als ausgleichender Ruhepol steht der Vater dafür gerade, dass das Leben weitergeht. Dass ihn all das dennoch belastet, zeigen seine Herzprobleme. 

Erstaunlicherweise nutzen beide die gleichen Medien wie Außenstehende, um mehr über ihren Sohn zu erfahren. Und ebenso fassungslos nehmen sie all das wahr.

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Wie gelingt es den Eltern, an all dem nicht kaputtzugehen?

Köster: Die zwei vereint eine Lebensfreude. Die Mutter sagt vor der Kamera, wie sehr sie das Leben liebt. Beide haben sich bewusst dafür entschieden, sich nicht völlig zurückzuziehen oder den Wohnort oder Namen zu wechseln. Sie können nicht vor der Vergangenheit fliehen, sondern konfrontieren sich damit.

Haben Sie bewusst darauf verzichtet, den Täter vor die Kamera zu holen? 

Köster: Ja, absolut. Er sollte keinerlei Plattform bekommen und ist im Film ohnehin ständig präsent. Es gibt die besagten Anrufe, wir zeigen Kindheitsbilder von ihm. Für einige Stellen des Films brauchten wir seine Einwilligung, etwa für die Szenen während der Telefonate. Daher hatten wir Kontakt mit ihm. 

Wir haben ihm frühzeitig klargemacht, dass wir keinen Film über ihn, sondern über seine Eltern machen. Darüber, dass auch sie zu seinen Opfern zählen. Also auch darüber, was er ihnen angetan hat. Das hat er akzeptiert.

Es ging uns um einen tiefgehenden Blick auf die Eltern. Wir haben auch darauf verzichtet, Hinterbliebene seiner Opfer zu befragen, nicht weil es nicht wichtig wäre, sondern weil es ein anderes Thema ist. Wir setzen das Augenmerk auf einen Aspekt, der unserer Meinung nach noch nie beachtet wurde. 

Der Dokumentarfilm „Jenseits von Schuld“ ist ab dem 19. September im Kino sehen. Weitere Informationen zum Film gibt es hier.

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