Filmtipp „Kulissen der Macht“: Wofür die USA in den Krieg ziehen
Werden sich die USA militärisch einmischen? Diese Frage taucht bei Krisen und Konflikten weltweit als eine der ersten auf. Der Dokumentarfilm „Kulissen der Macht“ rekonstruiert Entscheidungen des „Weltpolizisten“ aus den vergangenen Jahrzehnten und zieht eine kritische Bilanz.
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Was tun gegen staatlich organisiertes Morden? Samantha Power, seinerzeit UNO-Botschafterin der USA, im Gespräch mit dem früheren US-Präsidenten Barrack Obama.
Bill Clinton wirkt in diesem Moment zutiefst erschüttert. Oder ist er einfach nur peinlich berührt? „Herr Präsident, unternehmen Sie etwas gegen das Blutvergießen“, ruft ihm Elie Wiesel vom Redner*innenpult zu. Der bekannte Holocaust-Überlebende und Schriftsteller meint den Krieg in Bosnien und Herzegowina. Es ist der 22. April 1993. An dem Tag wird in Washington das Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten eröffnet. Seit gut einem Jahr toben die Kämpfe in der früheren jugoslawischen Teilrepublik. Die internationale Gemeinschaft schaut zu.
Was tun die USA?
„Nie wieder“ ist nicht nur in Deutschland zu einem geflügelten Wort geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vereinten Nationen und ihr wichtigstes Entscheidungsgremium, der Sicherheitsrat, auch mit dem Ziel gegründet, nach der Shoah wirksamer gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgehen zu können. Wenn abzuwägen war, ob oder wie man sich in Konflikte einmischen sollte, um einen erneuten Völkermord zu verhindern, ging es meist um eine Frage: Was tun die USA?
Wie hat sich der „Weltpolizist“ während der vielen Krisen seit dem Ende des Kalten Krieges verhalten? Wie kamen die Entscheidungen des Weißen Hauses, sich herauszuhalten, auf eigene Faust loszuschlagen oder eine internationale Koalition anzuführen, zustande? Welche Rolle spielte dabei das nationale Interesse? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Dokumentarfilm „Kulissen der Macht“.
Eine Archäologie des Schreckens
Auf der Suche nach Antworten betreibt der Filmemacher Dror Moreh (sein Dokumentarfilm „Töte zuerst – Der israelische Geheimdienst Schin Bet“ wurde 2013 für einen Oscar nominiert) eine Archäologie der US-Außenpolitik und auch des Schreckens. Vor der Kamera geben eine beeindruckende Zahl von Akteur*innen aus dem engsten Umfeld verschiedener US-Präsidenten Auskunft, darunter die ehemaligen Außenminister*innen Madeleine Albright, James Baker, Hillary Clinton und Colin Powell.
Nicht minder beeindruckend sind die Selbstzeugnisse von weniger prominenten Mitarbeiter*innen des Außenministeriums, die die Krisenherde aus eigener Anschauung kennen und persönliche Erfahrungen schildern. Einer von ihnen berichtet, dass ihn bis heute, wenn er schwimmen geht, die Vorstellung packt, von Leichen umgeben zu sein. So wie er es damals in Ruanda gesehen hat, als die Überreste der Abertausenden von Massakrierten im Wasser trieben.
Archivaufnahmen als permanenter Realitätscheck
Als Kontrast zu den Eindrücken von Gesprächen in schicken Büros und hinter verschlossener Tür (der Originaltitel „The Corridors of Power“ ist weitaus vielsagender als die deutsche Übersetzung) werden Archivaufnahmen von dem gezeigt, was zur Debatte steht: der sprichwörtlich dreckige Horror von Mord und Zerstörung, unter dem vor allem Zivilist*innen leiden. Nicht nur im ehemaligen Jugoslawien, sondern auch in Ruanda, in Syrien, im Irak und in Libyen. Die zum Teil sehr brutalen Aufnahmen sind wie ein permanenter Realitätscheck der Interviews.
Der israelische Regisseur macht es seinen Gesprächspartner*innen nicht leicht. Er hinterfragt deren (Selbst-) Darstellung, provoziert auch mal. Beim Gespräch mit Colin Powell über die Genese des Irak-Kriegs von 2003 hat man das Gefühl, dass der Ex-General gleich explodiert.
Anlass für den Film, an dem der 62-jährige Moreh rund zehn Jahre gearbeitet hat, war ein Chemiewaffen-Angriff des syrischen Regimes auf Zivilist*innen im Jahr 2013. Der damalige US-Präsident Barrack Obama sah damit eine „rote Linie“ überschritten. Dabei beließ er es.
Zu einer Frau aus Obamas Kreis kehrt die Erzählung immer wieder zurück. Als die Frage im Raum stand, ob die USA Syrien bombardieren sollen, war Samantha Power Senior Director für multilaterale Angelegenheiten und Menschenrechte. Im selben Jahr wurde sie US-Botschafterin bei der UNO. Zehn Jahre zuvor hatte sie für ihr Buch über den Umgang Washingtons mit Genoziden („A Problem from Hell”. America and the Age of Genocide“) den Pulitzer-Preis gewonnen.
Doppelte Perspektive
Mit dem Blick von heute kommentiert die frühere Journalistin die Reaktionen der USA und anderer Nationen auf das Abschlachten von Menschen in anderen Teilen der Welt. Zugleich unterzieht sie ihr eigenes Handeln als Teil der Obama-Administration einer kritischen Bilanz. Diese doppelte Perspektive ist gerade wegen ihrer Fallhöhe reizvoll.
„Die Kulissen der Macht“ zeichnet ein düsteres Bild der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft und wühlt auch wegen seiner gedanklichen Tiefe auf. Was uns der auch visuell sehr starke Film zeigt und welche Fragen er aufwirft, sollte gerade in der heutigen Zeit als Auftrag verstanden werden.
„Die Kulissen der Macht“ („The Corridors of Power“, Frankreich/Israel Deutschland 2023), Regie: Dror Moreh, Drehbuch: Dror Moreh, Orin Adar, Stephan Krumbiegel, mit Samantha Power, Antony Blinken, Hillary Clinton, Colin Powell u.a.,135 Minuten, OmU, FSK ab 16 Jahre
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