Gegen Rechtsextremismus: „Wir dürfen die Kraft, die Theater hat, nicht unterschätzen"
In Ostdeutschland driftet die Gesellschaft mehr und mehr auseinander. Zwei Kreative schaffen mit Kulturprojekten, woran die Politik oftmals scheitert.
Pawel Sosnowski/Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz
Szene aus „Das beispielhafte Leben des Samuel W." von Lukas Rietschel
Lukas Rietzschel hat viele Gespräche geführt. Manche begannen mit einer gezielten Provokation. „Mitunter war das Erste, was mein Gesprächspartner gesagt hat: Ich habe die AfD gewählt“, erinnert sich der 30-jährige Schriftsteller. Auf die Idee, sein Gegenüber für dessen Wahl zu verurteilen, würde Lukas Rietzschel nie kommen, auch wenn er selbst eine andere Überzeugung hat. „Es gibt – gerade in Ostdeutschland – einen gewissen Spaß daran, die tolerante Gesellschaft zu provozieren.“ Die Wahl der AfD drücke dies für viele aus, ist der Autor überzeugt.
Aus den 100 Gesprächen, die er zwischen Januar und September 2022 geführt hat, ist ein Theaterstück entstanden, eine Auftragsarbeit des Gerhart-Hauptmann-Theaters in Görlitz in Sachsen, wo Rietzschel wohnt. Einzige Vorgabe: Das Stück sollte einen Bezug zur Region haben. Vordergründig zeichnet Rietzschel in „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ den Aufstieg eines Politikers einer radikalen Partei, der eng an den Oberbürgermeister-Kandidaten der AfD in Görlitz 2019 angelehnt ist. Hintergründig thematisiert Rietzschel die Prägungen von 40 Jahren DDR-Geschichte sowie Entwicklungen und Enttäuschungen in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung.
Theater schafft Identifikation
Lukas Rietzschel ist einer der wichtigsten jungen Schriftsteller Deutschlands. In seinem Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ beschrieb er die Radikalisierung Jugendlicher im Osten. „Wir müssen akzeptieren, dass die Menschen die AfD wählen. Es ist nicht unsere Aufgabe, ihnen das abzutrainieren“, ist er überzeugt. Aus seiner Sicht steckt hinter der Wahl der AfD auch ein kommunikativer Akt. „Die Menschen fordern damit ein, ernst genommen zu werden.“
Theater könnten dabei eine wichtige Rolle spielen – wenn sie in der Gesellschaft vor Ort verwurzelt seien. Das habe auch das Stück über „Samuel W.“ gezeigt. „Für die Stadtgesellschaft ist dieses Stück enorm wichtig. Die Menschen diskutieren auf der Straße darüber, was sie gesehen haben“, erzählt Rietzschel. Seit der Premiere im Januar ist nahezu jede Vorstellung ausverkauft. Wenn Theater Themen aufgreifen, die die Stadtgesellschaft beschäftigen, schaffe das eine Identifikation. Parteien falle es dann auch umso schwerer, ein Theater zu schließen oder Einfluss auf dessen Programm zu nehmen, ist Rietzschel überzeugt. „Wir dürfen die Kraft, die Theater hat, nicht unterschätzen.“
Zusammen in der Zeitkapsel
Davon ist auch Anica Happich überzeugt. Der freien Schauspielerin ist aufgefallen, dass viele Menschen in Thüringen das Kulturangebot gar nicht nutzen. Der Freistaat hat einen hohen Altersdurchschnitt, viele Menschen sind also nicht mehr so mobil, müssten aber weite Strecken zurücklegen. Soziale Gruppen leben stark voneinander getrennt, wie in Sachsen hat die AfD auch in Thüringen viele Wählerinnen und Wähler. Also entschied die 34-Jährige: „Kultur muss raus aus den Immobilien“ – und zog mit dem von ihr gegründeten „Phoenix Theaterfestival“ aus dem Erfurter Schauspielhaus mitten in den Stadtteil Rieth.
Die Plattenbausiedlung mit rund 6.500 Bewohner*innen gilt als sozialer Brennpunkt. Happich und ihr Team nutzen sie als Begegnungsort. Ihr Festival bringt dort die Themen des Quartiers auf die Bühne. In einer Dekonstruktion des beliebten Musicals „Cats“ stehen vier Feministinnen als Katzen verkleidet auf der Bühne und jaulen über alles, was die Menschen vor Ort beschäftigt. „Da geht es etwa um die Frage, wer ist etwas wert in unserer Gesellschaft und wen oder was sortieren wir als ‚Schrott‘ aus“, sagt Happich. Dass „Cats of Erfurt“ diese Themen an ihrem Alltagsort verhandelt, sei für die Menschen total verbindend.
Aber kann Theater auch Rechtsextreme und Demokraten zusammenbringen? Happich glaubt nicht, dass alle Freund*innen werden. „Aber die Möglichkeit, dass sie in einer Zeitkapsel zwei Stunden lang nach vorne schauen und dieselbe Luft atmen, finde ich bewegend.“ Im vergangenen Jahr habe ein Mann mit einem T-Shirt im Publikum gesessen, das seine rechtsextreme Haltung verriet. Dennoch sei das Publikum mit rund 100 Besucher*innen total gemischt gewesen, die anderen Gäste ließen sich davon offenbar nicht abschrecken. „Das finde ich ehrlich gesagt eines der deutlichsten Zeichen, dass die Zivilgesellschaft stärker ist, als wir manchmal vermuten“, sagt Happich.