Kultur

Film „Das leere Grab“: Zwei Familien gegen den Horror des Kolonialismus

Zwei Familien suchen nach den Gebeinen ihrer Vorfahren: Der Dokumentarfilm „Das leere Grab“ bringt Traumata ans Licht, die Deutschlands Kolonialherrschaft in Tansania hinterlassen hat.

von Nils Michaelis · 17. Mai 2024
Das leere Grab - Szene mit Nachfahren

Keine wirkliche Ruhestätte: das Grab des Freiheitskämpfers Songea Mbano in Tansania.

Traumatische Erfahrungen werden häufig von Generation zu Generation weitergegeben. Das weiß man mittlerweile vor allem dank der Veröffentlichungen über Kriegsenkel*innen in Deutschland. Ganz besonders gilt dies auch für zahllose Familien in Tansania. Und auch hierbei spielen die Kategorien „Krieg“ und „Deutschland“ eine besondere Rolle.

„Ich bin wütend, weil die Deutschen etwas genommen haben, was uns gehört“, sagt eine Schülerin in Tansania. „Und natürlich, weil sie unsere Großeltern getötet haben.“ Gerade haben sie und ihre Mitschüler*innen mit ihrer Lehrerin im Unterricht das grausame Ende des Freiheitskämpfers Songea Mbano durchgenommen. 

Anfang des 20. Jahrhunderts war er einer der Anführer*innen eines Aufstandes gegen die deutsche Kolonialmacht, die ihn blutig niederschlagen ließ. Mbano wurde gehängt und sein Kopf nach Deutschland geschafft. Wie Zehntausende weitere Schädel und Knochen, die für pseudowissenschaftliche, rassistische Forschungszwecke geraubt wurden und noch immer in Depots lagern, vor allem in Berlin. 

Die Lebenden und die Toten kommen nicht zur Ruhe

Generationen von Hinterbliebenen warten bis heute auf die Rückkehr der sterblichen Überreste ihrer Vorfahren. Solange sie nicht gefunden sind, kommen weder die lebenden noch die toten Familienmitglieder zur Ruhe: So ist die psychologische und auch die spirituelle Gemengelage. Zwei solcher Familien stellt der Dokumentarfilm „Das leere Grab“ vor. Und auch ihren Versuch, die Sache endlich zum Guten zu bringen.

Für John Mbano und seine Frau Cesilia ist der Schmerz über das, was dem Urgroßvater widerfahren ist, ungebrochen. Nicht minder groß ist das Bedürfnis nach Heilung: Im Süden Tansanias begibt sich der junge Anwalt auf die Spur jenes Schädels. Cesilia – es handelt sich um die besagte Lehrerin – unterstützt ihn dabei.  

Auch in Felix und Ernest Kaaya wächst der Aktivismus. Vom nördlichen Landesteil aus begeben sie sich auf die Reise ihres Lebens, nicht nur im geografischen Sinne. Ob in der Hauptstadt Daressalam oder in Berlin: In ihrer Mission in Sachen Rückführung kämpfen sie mit der Bürokratie, erhalten aber auch Unterstützung von Aktivist*innen, die sich in Deutschland für einen anderen Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus einsetzen. 

Mit ihrer Hilfe finden die Mbanos Zugang zu Regierungskreisen. Am Ende besucht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihre Heimatstadt und zeigt eine Geste, auf die viele gewartet haben, selbst wenn sie das Leid nicht lindern kann.

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Wer einen Dokumentarfilm entwickelt, weiß in der Regel nicht, wie die Erzählung endet. Dieses offene Grundwesen gilt für „Das leere Grab“ umso mehr. Die mühevolle, gleichermaßen von Verzweiflung und Hoffnung getriebene Suche der Familien Mbano und Kaaya findet ihre Entsprechung in einer mäandernden Erzählweise. Diese kreist stets um einen auf Heilung fokussierten Kern und integriert immer wieder neue Begegnungen, Sichtweisen und Schauplätze.

In diesem Strom von Eindrücken zwischen Gegenwart und Vergangenheit fällt die Orientierung nicht immer leicht, zumal es keinen Off-Text gibt. Nichtsdestotrotz schafft der Film ein Bewusstsein und Empathie für die psychologischen Dimensionen seiner Thematik. Und auch dafür, wie sehr die Traumata dieser beiden Familien für kollektives Leid in Tansania und anderen ehemaligen Kolonien stehen.

Die Aufarbeitung steht am Anfang

Deutschlands Verbrechen während der Kolonialzeit: Seit einigen Jahren findet das Thema immer mehr öffentliche Resonanz. In Berlin wurden Straßen umbenannt, die an Generale von Kolonialtruppen erinnern. Das deutsche Kinodrama „Der vermessene Mensch“ widmete sich jenem pervertierten Forscher*innengeist, der dazu führte, dass Schädel ermordeter Menschen von Afrika nach Europa gekarrt wurden. 

Und doch: Die Aufarbeitung steht noch am Anfang. Von Aussöhnung nicht zu reden. So erlebte es jüngst auch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil während seiner Reise nach Namibia.

Der politische und historische Kontext des Ganzen ist gewaltig: „Das leere Grab“ setzt ganz bewusst auf die Perspektive der Betroffenen. Der deutschen Filmemacherin Agnes Lisa Wegner und ihrer tansanischen Kollegin Cece Mlay ist es gelungen, vielschichtige, wenn nicht gar widersprüchliche Eindrücke und Erlebnisse zu einer ebenso herausfordernden wie berührenden Erzählung zu verdichten. 

Die unaufdringliche, aber von Unmittelbarkeit gespeiste Weise, Menschen wie den Mbanos und Kaayas eine Stimme zu geben, ist umso nachhaltiger. Auch weil gezeigt wird, wie sie aus eigenem Antrieb zu neuer Kraft finden.

Ein Ende des Vergessens

Zugleich entreißt der Film, der auf der Berlinale lief, ein bislang unterbelichtetes Kapitel der deutschen Geschichte, nämlich den verbrecherischen Krieg in „Deutsch-Ostafrika“, dem Vergessen. Auch hierbei zeigt sich, was für die deutsche Politik zu tun bleibt.

„Das leere Grab“ (Deutschland/Tansania 2024), ein Film von Agnes Lisa Wegner und Cece Mlay, 97 Minuten, Originalfassung in Deutsch, Suahaeli und Englisch.

www.salzgeber.de

Kinostart: 23. Mai

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Di., 21.05.2024 - 10:55

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Zu erwähnen wäre wenigstens der See- und Kolonialoffizier Hans Paasche (ermordet am 21. Mai 1920) gewesen, der aufgrund seiner Erfahrungen im Maui-Maui Aufstand in Tansania zum Pazifisten und Sozialisten wurde. Aber solchen Menschen scheint die SPD im Zeitalter der Kriegsertüchtigung ferner zu stehen als je zuvor.