Warum Frankreichs neuer Premier Bayrou auf die Linken zugehen muss
Frankreichs neuer Premierminister François Bayrou steht vor einer fast unmöglichen Aufgabe: Umgeben von zerstrittenen Parteien soll er ein stabiles Regierungsbündnis schmieden. Kann er die Parteien und das Land versöhnen?
IMAGO / ABACAPRESS
Vor ihm liegt eine Herkules-Aufgabe: Frankreichs neuer Premierminister Bayrou in der Nationalversammlung
Freitag, der 13. Dezember war der Tag, an dem François Bayrou zum neuen Premierminister von Frankreich ernannt wurde. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – und doch. Schon die ersten Amtstage scheinen jeden Aberglauben zu bestätigen.
Am Tag darauf, die Tinte auf Bayrous Ernennungsurkunde war noch kaum trocken, raste Zyklon „Chido“ über Mayotte, das 101. Département der Französischen Republik – nördlich von Madagaskar vor Ostafrika gelegen – hinweg, verwüstete ganze Stadtviertel und verursachte eine Katastrophe. Der Präfekt spricht von „mehreren Hundert Toten, vielleicht gar Tausenden“, Cholera und Ruhr drohen, das Trinkwasser ist ebenso knapp wie Nahrung und Medikamente, Mayotte muss neu aufgebaut werden, inklusive des zentralen Krankenhauses.
Kopfschütteln wegen Bayrous Instinktlosigkeit
Ein Land unter Schock – und der Premier fliegt nach … Pau. Bayrou ist seit zehn Jahren Bürgermeister der alten aquitanischen Königsstadt am Fuß der Pyrenäen und fand es wichtiger, in seiner Heimat 800 Kilometer Fahrstrecke südlich von Paris eine Stadtratssitzung zu leiten, als in der Hauptstadt die Krisensitzung zur Bewältigung der dramatischen Lage im Übersee-Departement.
Kopfschütteln war die freundlichste Reaktion auf diese unfassbare politische Instinktlosigkeit. Dabei ist Bayrou ein „alter Hase“, mit allen Wassern gewaschen und gefühlt schon immer in der französischen Politik: Von 1993 bis 1997 war er Bildungsminister, zwischen 1999 und 2002 Europaabgeordneter und er kandidierte dreimal als liberaler Zentrumspolitiker für die französische Präsidentschaft; im ersten Kabinett Édouard Philippe war er dann 2017 Justizminister und stellvertretender Premier.
Seit 2007 ist der 73-Jährige zudem Chef des Mouvement Démocrate (MoDem), einem wichtigen Teil der Parteienfamilie um Präsident Macron. Gesellschaftspolitisch ist der sechsfache Vater Bayrou eher konservativ, wirtschafts- und sozialpolitisch kann er sich mit sozialdemokratischen Positionen anfreunden. Er gilt als volkstümlich, bisweilen cholerisch und als gewiefter Taktiker.
Dieselben Herausforderungen wie bei Vorgänger Barnier
Und dann ein derartiger Fehler am ersten Werktag als Premierminister. Als wäre die Aufgabe nicht auch so schon schwer genug. Sein Vorgänger Michel Barnier war nach nur knapp drei Monaten im Amt daran gescheitert, einen Haushalt durchs Parlament zu bringen. Es ist nicht zu erkennen, warum Bayrou das Kunststück gelingen sollte, denn an den Mehrheitsverhältnissen in der Assemblée Nationale hat sich nichts geändert, sie bleibt in drei gleichstarke Blöcke fragmentiert.
Frankreichs Schuldenlast steigt weiter. Sie liegt aktuell beim Doppelten der deutschen Staatsverschuldung und mit einem Defizit von über 6,1 Prozent im vergangenen Jahr auch beim Doppelten des von der EU erlaubten, was dem Land einen „Blauen Brief“ eingebracht hat. Die Staatsschulden müssen zwingend runter. Heißt praktisch höhere Steuern und gleichzeitig sinkende Ausgaben. Nur will das eben niemand.
Der Premier – wer immer es ist – muss aber dafür eine Mehrheit organisieren, die nirgends zu erkennen ist. Nur wenn es Bayrou gelänge, die gemäßigte Linke - Sozialisten, Grüne und Kommunisten - ins Boot zu holen, könnte er ein Misstrauensvotum überstehen.
Bayrou muss auf die Linke zugehen
Die Chance etwas länger an der Regierung zu bleiben, und dabei – anders als Barnier – nicht vom Wohlwollen des rechtsextremen Rassemblement National von Marine Le Pen abhängig zu sein, kann Bayrou nur erreichen, indem er auf die Linke zugeht, die schließlich die Parlamentswahlen gewonnen hat. Präsident Macron weigert sich aber weiterhin, eine*n Vertreter*in der Linken zum Premier zu machen, mit dem Argument, die Linke werde zwangsläufig an einem Misstrauensvotum scheitern. Als wäre das nicht soeben seinem Kandidaten Barnier widerfahren.
Die Sozialisten haben erklärt, sie seien nicht willens, in eine Regierung Bayrou einzutreten, weil Macron den Wahlsieg der Linken erneut ignoriert habe. Solange der Präsident keinen Premier aus ihrer Mitte ernenne, so Parteichef Olivier Faure, vertiefe er die demokratische Krise des Landes. Wie auch Kommunistenchef Roussel besteht Faure zumindest darauf, der Haushalt müsse konsensfähig verhandelt werden und dürfe nicht per Dekret durchs Parlament gebracht werden.
„Nur wenn Bayrou zusichert, den Art. 49.3 nicht mehr zu nutzen, sind alle gezwungen, Kompromisse zu machen.“ Dann könne man im Gegenzug auf ein Misstrauensvotum verzichten. Auch die Grünen würden Bayrou nur tolerieren, wenn er sich auf sie zubewege. „Wenn er den Hardliner Bruno Retailleau im Innenministerium behält, wenn er kein Jota von der ungerechten Rentenreform abrückt, wenn er nichts für die Umwelt oder die Steuergerechtigkeit tut, sehe ich nicht, welche andere Wahl wir hätten, als ihm das Misstrauen auszusprechen, sobald wir die Gelegenheit dazu haben“, so ihre Vorsitzende Tondelier.
Gegenüber Macron hat Bayrou wenig Beinfreiheit
Was die Regierungsbildung angeht, ist seit Barniers Ernennung nicht viel passiert und dabei wird es auch bis zum Jahresbeginn bleiben. Die Katastrophe von Mayotte muss gemanagt werden und ansonsten ist erst mal Weihnachten. Zudem will Macron bei der Kabinettsbildung ein gewichtiges Wort mitreden.
Wenig Beinfreiheit für Bayrou, der ziemlich sicher einer eher schwachen Minderheitsregierung vorstehen wird. Alle Minister*innen sind weiterhin im Amt, lediglich die Posten des Stabs- und des Kabinettschefs wurden mit Nicolas Pernot und Pierre-Emmanuel Portheret neu besetzt. Und so hat der Präsident persönlich angekündigt, sein Premierminister werde am Vorweihnachtsabend Neuigkeiten zur Kabinettsbildung verkünden. Substantielles wird allerdings eher nicht erwartet.
An den Bar-Tresen von Paris, Toulouse und Marseille wird eigentlich nur diskutiert, ob Bayrou länger durchhalten kann als Vorgänger Barnier, vielleicht gar bis zum wahrscheinlichen Neuwahltermin im Juni/Juli 2025, oder auch nicht. So mancher mutmaßt, die Stadtratssitzung in Pau sei auch deshalb für Bayrou so wichtig gewesen, weil das schon bald wieder seine Hauptaufgabe werde. Böswillige erinnern an den Roman „Die Unterwerfung“, in dem Michel Houllebecq Bayrou in Anlehnung an Simone Veil als intellektuell beschränkten Dämlack ohne Rückgrat und politische Vision beschreibt, ausschließlich darauf ausgerichtet, Karriere zu machen.
Da auch er keine Wunder vollbringen kann, dürfte das Amt des Premierministers von Frankreich wohl nicht der Karrierehöhepunkt des Francois Bayrou werden.