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Frankreich: Warum Premierminister Barnier in dieser Woche das Aus droht

Weil das Parlament seinem Sparkurs nicht folgen will, muss sich der französische Premierminister Barnier in dieser Woche einem Misstrauensvotum stellen. Das könnte nach wenigen Monaten schon wieder das Aus für seine Regierung bedeuten und wäre auch für Präsident Macron kein gutes Zeichen.

von Kay Walter · 4. Dezember 2024
Erst seit wenigen Monaten im Amt, steht er schon wieder vor dem Aus: Frankreichs Premierminister Barnier

Erst seit wenigen Monaten im Amt, steht er schon wieder vor dem Aus: Frankreichs Premierminister Barnier

Spätestens Donnerstag steht die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne Regierung und ohne funktionstüchtigen Haushalt da. Premierminister Barnier hat versucht, Frankreich einen sehr milden, nichtsdestotrotz ungewohnten, ungewollten, aber dringend notwendigen Sparkurs zu verordnen – und er ist an diesem Versuch krachend gescheitert. Nicht einmal seine Minister und die Parteien seiner Minderheitsregierung wollten ihm folgen. Noch viel weniger die Opposition. 

Premier Barnier zahlt hohen Preis

Barnier sah sich Anfang der Woche gezwungen, den Sozialetat als Zentrum seines Etatentwurfs per Dekret und ohne Abstimmung durchs Parlament zu bringen, was ihm die Verfassung in Form des Artikel 49.3 erlaubt. Frankreichs wachsende Staatsverschuldung lasse ihm, so Barnier, keine Wahl. „Es geht darum, die Interessen unseres Landes zu verteidigen, seinen Einfluss in Europa und weltweit. Deshalb greife ich zum Artikel 49.3."

Der Preis für eine derart per Dekret ausgesetzte Abstimmung ist allerdings sehr hoch: Die Opposition kann binnen 24 Stunden ein Misstrauensvotum ansetzen. Das Linksbündnis der Neuen Volksfront hat das umgehend getan. 

Warum auch Macron angeschlagen ist

Als stärkste Gruppe im Parlament hat sie Barnier von Anfang an abgelehnt und den Posten des Premiers für sich reklamiert. Auch Marine Le Pen kündigte im Namen des rechtsradikalen Rassemblement National (RN) an, einen Misstrauensantrag einzubringen – und dies, obwohl Barnier ihr im Haushaltsstreit der vergangenen Tage weitreichende Zugeständnisse angeboten hatte.

Mittwoch oder Donnerstag wird das französische Parlament, die Nationalversammlung, abstimmen, und da die Regierung im Parlament sehr weit von einer eigenen Mehrheit entfernt ist, wird Barnier verlieren. Präsident Macron wird ihn entlassen müssen, nicht zwangsläufig, aber politisch ist es nicht anders vorstellbar. Es sei denn, Marine Le Pen entscheidet sich in letzter Minute dazu, mit einem Teil der Stimmen ihrer Fraktion Barnier das Überleben als Premier zu sichern. So oder so, Barnier ist politisch erledigt. Und Macron mehr als angeschlagen.

Linke und Rechtsradikale gemeinsam

Was dann passieren wird, ist allerdings völlig offen. Sollte es so kommen – wofür alles spricht – dass Linke und der Rechtsradikale zusammen Barnier das Misstrauen aussprechen, wird viel von einem Tabubruch die Rede sein, weil „die Extreme gemeinsam den Premier gestürzt hätten“.

Tatsächlich haben noch nie Linke und Rechte in einer zentralen Frage gleich votiert. Wahr ist aber auch, dass die Volksfront als stärkste Gruppe das Amt des Premiers nach den jüngsten Wahlen mit gutem Grund für sich eingefordert und Macron gewarnt hatte, Barnier werde mit seiner Minderheitsregierung keinen rechtsgültigen Haushalt zustande bringen können. Ein Vorwurf, den Macron seinerseits der Linken vorhielt und damit vorsätzlich die jetzige Situation erzeugte, die Barnier zu einem Premier von Le Pens Gnaden macht. 

Le Pen entscheidet

Sie bestimmt darüber, ob Barnier ihr weit genug entgegengekommen ist. Der Haushaltsstreit der vergangenen Tage hat das deutlich gemacht. Immer wieder formulierten Le Pens Parteifreund*innen neue „Rote Linien“ als Mindestzugeständnisse. Immer wieder ließ Le Pen die Latte für Barnier ein bisschen höher legen, bis er scheitern musste. Und sie forderte das Unmögliche: einen ausgeglichenen Haushalt einerseits und das Zurückziehen aller Kürzungen andererseits. Barnier konnte nur scheitern.

Und das vor dem Hintergrund eines Haushaltsdefizits von freundlich gerechnet 6,1 Prozent – die EU erlaubt maximal 3 Prozent – und Staatsschulden in Höhe von mehr als 3,2 Billionen Euro. Dieses Defizit und der absehbare Zusammenbruch der Regierung Barnier führten schon am Montag dazu, dass griechische Anleihen auf den internationalen Finanzmärkten besser als französische Anleihen gewertet wurden. Ausländische Investoren hatten Investitionspläne schon nach der Parlamentsauflösung im Juni verschoben. Barniers ursprüngliche Budgetpläne hätten das Defizit des Landes wenigstens auf fünf Prozent des BIP senken sollen.

Drei Blöcke ohne Koalitionsoptionen

Noch verfahrener wird die Situation, weil sich im Parlament drei Blöcke gegenüberstehen, die sich gegenseitig ausschließen, aber nahezu gleich groß sind: Linke Volksfront, konservative Zentristen und Rechtsradikale. Und weil die übergroße Mehrheit der französischen Bürger*innen Jean-Luc Mélenchons linksradikale „La France Insoumise“ für erheblich bedrohlicher halten als Marine Le Pens rechtsradikalen Rassemblement, verweigert die bürgerliche Mitte die Zusammenarbeit mit der Linken – jedenfalls solange diese sich nicht von Mélenchon trennt.

Praktisch bedeutet dies, jede neue Regierung wird an einem Haushalt nur scheitern können. Schlimmer noch: Neuwahlen sind erst im kommenden Jahr wieder möglich. Frühestens ein Jahr nach den von Macron selbst mutwillig herbeigeführten Wahlen vom Juni 2024 darf der Präsident das Parlament erneut auflösen. Bis dahin wird das Gewürge ohne Mehrheit weitergehen (müssen). 

Muss auch Macron zurücktreten?

Marine Le Pen kommt das gelegen. Sie hofft, dass Macron selbst sich zum Rücktritt gezwungen sieht und sie an seine Stelle treten kann – und zwar bevor ein Urteil im Betrugsprozess wegen illegaler Verwendung von EU-Geldern gegen sie gesprochen wird. Würde sie verurteilt, wäre sie automatisch von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen. Wäre sie Präsidentin, genösse sie dagegen Immunität.

In Brüssel wie in anderen europäischen Hauptstädten wird man langsam nervös. Die beiden größten Volkswirtschaften, Deutschland und Frankreich, können für 2025 keinen vollständig rechtsgültigen Haushalt vorweisen. Das schadet der Union, weil erstens nicht klar ist, was noch zu finanzieren ist und weil zweitens beide Nationen mehr mit sich selbst beschäftigt sind als mit den internationalen Krisen und deren Lösung. 

Analyst*innen beruhigen: Frankreich wird nicht gleich pleite gehen und Deutschland vielleicht doch die Schuldenbremse zugunsten von Investitionen in Bildung und Infrastruktur lockern. Und doch: für alle EU-Bürger*innen – wie für die Menschen in der Ukraine, Georgien oder Moldau – sind das keine guten Nachrichten.

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