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Warum Erdoğan die Wahlen in der Türkei vorzieht

Erdoğan will die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf Mai vorziehen. Für die Wähler*innen ist die Hyperinflation das bestimmende Thema. Gerade bei den Jungen schwindet der Rückhalt.
von Kristina Karasu · 25. Januar 2023
Präsident Erdoğan am Wochenende in Bursa: Die Türkei wählt im Mai neu.
Präsident Erdoğan am Wochenende in Bursa: Die Türkei wählt im Mai neu.

Der Preis, den sie am Morgen ihren Kund*innen nennt, ist am Nachmittag nicht mehr gültig, berichtet Seyda Sencayir, Versicherungsmanagerin in der türkischen drei-Millionen-Metrople Bursa. Die türkische Hyperinflation, im letzten Jahr offiziell bei 64 Prozent, aber laut unabhängiger Analyst*innen mehr als doppelt so hoch, hält die türkische Wirtschaft im permanenten Krisenmodus. Ihren Optimismus will Sencayir  trotzdem nicht aufgeben: „Zum Glück sind die Geschäftsleute hier in Bursa sehr krisenerfahren“, sagt sie.

Mit Innovationen aus der Krise

Sencayir ist Co-Vorsitzende des Vereins der Geschäftsfrauen Bursas, kurz Buikad genannt. Sie und drei Mitstreiterinnen haben im Büro zum Gespräch geladen. Gegenüber von ihr sitzt die Unternehmerin und Maschinenbauingenieurin Nazan Akinci, sie produziert mit 160 Angestellten Plastik- und Gummiteile, vorwiegend für die Autoindustrie. Die Inflation habe sie bereits 2019 kommen sehen, als es weltweit erstmals zu Lieferpässen kam, sagt sie. Ihr Rezept gegen die Inflation: langfristig Rohstoffe horten, geschickt Kredite aufnehmen, auf lokale Zulieferer statt auf Importware setzen. So konnte sie ihr Unternehmen in den vergangenen Jahren sogar vergrößern.

Alle vier sind sich einig: Innovation sei die einzige Weg durch die Krise; Gleichberechtigung und Nachhaltigkeit unverzichtbar. Doch über die anstehenden türkischen Wahlen wollen sie nur wenige Worte verlieren: „Wir konzentrieren uns auf das, was wir ändern können, nämlich unsere Arbeit“, so der Konsens. Mit politischer Kritik halten sie sich tunlichst zurück – wie so viele in der türkischen Wirtschaft.

Geht Erdoğans Kalkül auf?

Dabei steht die Türkei vor einer Schicksalswahl: In diesem Jahr wählt das Land einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament. Laut aktuellen Umfragen sind eine Wiederwahl von Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP fraglich. Insbesondere die Inflation ist für sie zum Verhängnis geworden. Lebensmittel, Energie, Rohstoffe, Dienstleistungen und Löhne – besonders in den vegangenen Monaten stiegen die Preise unaufhörlich. In den Supermärkten werden derzeit ständig die Preisschilder ausgetauscht.

Bei einem Besuch in Bursa kündigte Erdogan am Wochenende an, die Wahlen von Mitte Juni auf Mitte Mai vorziehen zu wollen, angeblich damit sie nicht in die Schulferien fallen und mit staatlichen Aufnahme-Prüfungen kollidieren.

Der wahre Grund könnte ein anderer sein. Erdoğan darf laut Verfassung eigentlich nicht ein drittes Mal kandidieren, sagen viele Verfassungsrechtler*innen. Doch mit einer Vorverlegung der Wahl könnte er diese Hürde umgehen. Zum anderen hat Erdoğan zum Jahreswechsel den Mindestlohn kräftig um 54,66 Prozent angehoben, das stieß bei seiner Wählerschaft auf viel Zustimmung. Doch je länger die Inflation anhält, um so mehr wird der Effekt dieser Lohnerhöhungen verfliegen. Daher das Credo seiner Regierung: je früher wählen, umso besser.

Viel Zuspruch in Bursa

Rund 120.000 Menschen kamen am Wochenende zu Erdoğans Kundgebung in Bursa. In der viertgrößten Stadt des Landes ist die Unterstützung für den Präsidenten seit Jahren groß, hier gibt es eine breite, islamisch-konservative und nationalistisch gesinnte Wählerschaft. Zugleich hat die lokale Industrie kräftig von den einstigen Boom-Jahren und zahlreichen staatlichen Investitionen unter Erdoğan profitiert. Anders als die drei größten Städte des Lands, Istanbul, Ankara und Izmir, wird Bursa weiterhin von Erdoğans AKP regiert, allerdings gewann sie bei den jüngsten Kommunalwahlen 2019 hier nur noch mit sehr geringem Vorsprung.

Wer sich in der historischen Altstadt umhört, erlebt viel Zuspruch für Erdogan. „Die Inflation macht uns das Leben schwer, aber wir werden auch diese Krise überwinden“, so ein Händler für Tischdecken. Erdoğan sei dafür der geeignete Kandidat. „Die Opposition will gar nicht wirklich regieren, hat gar kein richtiges Programm“, wettert ein Rentner. Erdoğan hingegen werde es wieder richten, glaubt er. Viele Menschen in Bursa wollen allerdings erst gar nicht reden, winken vehement ab.

Die einheimische Gymnasiallehrerin Yeliz Toy erklärt sich diese Zurückhaltung mit Angst: „Die AKP tut alles, um Bursa nicht an die Opposition zu verlieren, es herrscht ein großer Druck“, sagt die Bursa-Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft Egitim-Is. Wer sich etwa in der Gewerkschaft engagiere, dem drohe der Jobverlust. Sie selbst sei wegen ihres Engagements schon oft angeklagt worden. Ihr Kollege Özkan Rona, Bursa-Vorsitzender des Gewerkschaftsverbundes öffentlicher Angestellte berichtet, Beamt*innen seien per staatlicher Anweisung verpflichtet gewesen, an der Erdoğan-Kundgebung in Bursa teilzunehmen.

Die Mauer der Angst bröckelt

Allem Druck zum Trotz bekomme ihre Gewerkschaft jeden Tag bis zu 80 neue Anmeldungen, erzählt Toy. „Die Mauer der Angst beginnt in der Lehrerschaft zu bröckeln“, beobachtet sie. Zum einen, weil Lehrer*innen mittlerweile so wenig verdienen, dass sie kaum noch ihre Familien ernähren können. Ihr Gehalt wurde zum Jahreswechsel nur um 30 Prozent erhöht, weit niedriger als die Inflation. Zudem nehme die Qualität der Bildung rapide ab, sagt Toy. Islamische Sekten hätten mit dem Segen der Regierung einen riesigen Einfluss auf den Bildungssektor gewonnen.

Die AKP habe zudem systematisch naturwissenschaftliche Gymnasien in religiöse Imam-Hatip-Schulen oder Berufsschulen umgewandelt, kritisches Denken solle im Unterricht vermieden werden. Besonders schlimm stehe es um ihre Schülerschaft, sagt Grundschullehrer Rona. Er zeigt ein Foto vom Pausenbrot eines seiner Schüler: ein trockenes Weißbrot, gefüllt nur mit zwei Oliven. Der Familie fehlt selbst für Butter und Käse das Geld. Vieler der Kinder kommen hungrig zur Schule, Hefte, Bücher und Schuluniformen sind für sie erst recht unerschwinglich. „Schon die Grundschulkinder sprechen ständig über die Wirtschaft“, sagt Rona.

Skepsis in der jungen Generation

Viele junge Türk*innen kehren deshalb ihrer Heimat den Rücken. Laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung wollen fast 73 Prozent der jungen Türk*innen gerne im Ausland leben. Arbeitslosigkeit, miese Bezahlung und mangelnde Freiheiten treiben sie aus dem Land. Auch die Geschäftsfrauen beklagen, dass die besten jungen Ärzt*innen und Ingenieur*innen des Landes abwandern.

„Kein junger Mensch bleibt freiwillig in der Türkei“, meint der 26-jährige Fitnesstrainer Atakan Tirasoglu, zu Besuch in Bursa. Er hat selbst mal die AKP gewählt, doch jetzt wünscht er sich dringend einen Regierungswechsel: „Die jetzige Regierung ist so rückwärtsgewandt, mit dem neuen Zeitalter und der Jugend kann sie nicht Schritt halten“, meint er. In die Opposition setzt er nur bedingt Hoffnungen. Selbst bei einem Regierungswechsel es noch Jahre dauern würde, bis das Land wieder aus der Krise käme, glaubt er.

Laut aktuellen Umfragen wollen nur knapp 14 Prozent der jungen Türk*innen für Erdoğans AKP stimmen. Bei seinem Bursa-Besuch traf sich der Präsident auch mit jungen AKP-Anhänger*innen, der Titel der Veranstaltung: „Meine erste Stimme geht an Erdogan“. Ob das reichen wird, die junge Generation auf seine Seite zu ziehen, ist fraglich.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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