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Raphaël Glucksmann: Wie der Spitzenkandidat der PS die Europawahl aufmischt

In den Prognosen für die Europawahl legen die französischen Sozialisten seit Wochen zu. Das liegt vor allem an ihrem Spitzenkandidaten Raphaël Glucksmann. Wer ist der Mann, der schon Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko beraten hat?

von Kay Walter · 21. Mai 2024
Führt er die PS in Frankreich zu neuer Stärke bei der Europawahl? Spitzenkandidat Raphaël Glucksmann

Führt er die PS in Frankreich zu neuer Stärke bei der Europawahl? Spitzenkandidat Raphaël Glucksmann

Am 15. Mai stellt der gut gelaunte Spitzenkandidat auf einer Pressekonferenz das Wahlmanifest der französischen Sozialisten vor, darin 337 konkrete Punkte, die künftig in den EU-Parlamenten von Brüssel und Straßburg umgesetzt werden sollen. Die gute Laune von Raphaël Glucksmann hat Gründe: Zur selben Zeit veröffentlichte Umfragen prognostizieren der PS mit Glucksmann an der Spitze knapp 15 Prozent der Stimmen, gleichauf mit dem Lager von Präsident Macron. Das wäre mehr als eine Verdoppelung des PS-Ergebnisses von 2019. Damals holte die Partei 6,2 Prozent.

Das „Phänomen Glucksmann“

Zur Wahrheit gehört aber auch: Weit in Front liegt weiterhin Marine Le Pens Rassemblement National unter Parteichef Jordan Bardella. Doch bereits vor Wochen – da lag Glucksmann noch mit circa zehn Prozent auf Platz drei bis vier, wenngleich bereits deutlich vor den Grünen und vor allem vor „La France Insoumis“ (LFI) von Jean-Luc Mélenchon – beschrieben französische Medien das „Phänomen Glucksmann“. Sie hielten es für eine Medienblase, eine Hype, hervorgerufen durch Glucksmanns Beliebtheit in den Sozialen Medien, etwa der rund 800.000 Follower*innen auf Instagram.

Das Präsidentenlager ignorierte den PS-Kandidaten ebenfalls lange Zeit in dem Glauben, es ginge einzig um die Auseinandersetzung Macron gegen Le Pen, bürgerlich gegen rechtsradikal. Eine Strategie, die – wenn denn je – längst keinen Bestand mehr hat, vor allem, seit Glucksmann in den Umfragen Woche für Woche näher an Macrons Kandidatin Valérie Hayer heranrückt. Das alarmiert Macron und die Linken gleichermaßen. Steht Frankreich eine Überraschung bevor? Gar eine Art Wiedergeburt der PS?

Die Angriffe von links außen verfangen nicht

Glucksmanns Aufstieg sorgt unterdessen für Polemik. Vom linksradikalen Lager des LFI wird er als „falscher Macron“ angegriffen, und die Macron-Liste versucht, ihn linker erscheinen zu lassen, als er tatsächlich ist. Denn unentschlossene Wähler*innen könnten sich in der Tat Glucksmann zuwenden. Viele, die sich von LFI abkehren, weil sich die Medienauftritte der Partei und ihres Aushängeschilds Jean-Luc Mélenchon hauptsächlich auf die Situation im Gaza konzentrieren und andere Themen, erst recht europäische, komplett ausblenden, könnten Glucksmann und der PS ihre Stimme geben. Und das Präsidentenlager scheint vielen Französinnen und Franzosen unwählbar, zumal Macrons Partei keinerlei Verankerung auf dem Land hat. „Glucksmann lebt von der Schwäche seiner Konkurrenten“, analysiert daher der Politologe Brice Teinturier für „Le Monde“.

Die Angriffe von links-außen, die Raphaël Glucksmann als „völlig abgehobenen Vertreter der Elite und weit weg von den realen der Menschen“ diffamieren wollen, verfangen, noch zumindest, nicht. Die Antwort des Ex-Journalisten „Ich bin im 10. Arrondissement geboren, da gibt es nur Beton“, schon eher, auch wenn sie nur bedingt stimmt. Denn geboren wurde Glucksmann tatsächlich am 15. Oktober 1979 in Boulogne-Billancourt, als Sohn des bekannten Philosophen André Glucksmann und dessen Frau Francoise. Im teils großbürgerlichen südlichen Vorort von Paris stand aber auch von 1929 bis 1992 das Stammwerk von Renault, dessen bewegte Streikgeschichte das geflügelte Wort erzeugte: „Wenn Renault hustet, ist Frankreich erkältet.“

Berater von Vitaliy Klischtko

Aufgewachsen ist der heute 44jährige Glucksmann – und damit älteste französische Spitzenkandidat – dann aber wirklich im 10. Arrondissement, im Zentrum von Paris, süd-östlich von Pigalle, und damit weder hip wie im Marais, noch großbürgerlich-reich, wie etwa im 8. oder 16. Arrondissement. Er besuchte eine normale, heißt staatlich Schule, bevor er an der Science Po studierte. Glucksmann wird Journalist, lebt sieben Monate in Algerien, dreht in Ruanda den Dokumentarfilm „Kill them All“ auf den Spuren der französischen Verantwortung für den Völkermord an den Tutsi, und geht 2008 als Berater von Präsident Saakashvili nach Georgien. Fünf Jahre später zieht er mit seiner ersten Frau, der georgischen Politikerin Eka Sguladse, in die Ukraine, berät dort unter anderem Vitali Klitschko.

Ein bewegtes Leben schon in jungen Jahren. In der Wohnung der elterlichen Familie gingen linke Intellektuelle und Politiker*innen, wie Dissident*innen aus Osteuropa, Lateinamerika und Algerien ein und aus. Das prägt, intellektuell wie sozio-kulturell. Die Rechtsradikalen betonen Glucksmanns Jüdisch-Sein, die Linksradikalen seine bürgerliche Herkunft weitab der arbeitenden „classes populaires“.

Er selbst sagt dazu in einem Interview: „Ich stamme von Katholiken und Juden ab, von Reichen und Armen. Ich habe keine jüdische Ausbildung erhalten, wir haben zu Hause nur über Rousseau und Voltaire gesprochen“. Um dann hinzuzufügen: „Meine Großeltern waren resistent, egal ob Kommunisten, Quasi-Nationalisten oder Einwanderer. Ich bin im Kult Frankreichs aufgewachsen. Es klingt zwar altmodisch, aber ich habe eine liebevolle Beziehung zu Frankreich. Es ist eine unendliche Chance, der Erbe dieser Geschichte Frankreichs zu sein.“

Schon lange vor dem Ukraine-Krieg gegen Putin

Zwei prägende Themen übernimmt der junge Raphaël Glucksmann von seinem Vater André, dem „ersten und besten Freund“: Demokratie und Menschenrechte. Die und das Erstarken der Ultrarechten in Frankreich bringen ihn in die Politik. Hatte er 2007 noch für Präsident Sarkozý geworben – was er später als Fehler bezeichnete – setzte sich Raphaël Glucksmann 2017 für den sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Benoît Hamon und im zweiten Wahlgang vehement für Emmanuel Macron und gegen Marine Le Pen ein. 

2019 zog er in einer gemeinsamen Liste mit der PS erstmals ins Europaparlament ein. Er schrieb früher als andere, dass Europa den russischen Gas- und Ölimporten ein Ende setzen und mehr Waffen an die ukrainischen Streitkräfte liefern müsse. Er argumentierte lange vor dem Ukrainekrieg gegen Putin und den chinesischen Präsidenten Xi. Er setzt sich für ein Bündnis zwischen Sozialismus und Ökologie und für die Stärkung des „Green Deal“ der EU ein. Er fordert einen europäischen Mindestlohn und eine besondere Besteuerung von Milliardär*innen. Schließlich kritisiert er die Abschottung Europas im Migrations- und Asylpakt als weder sinnvoll noch zielführend.

Ein glühender Europäer

Abgesehen von Präsident Macron, ist Glucksmann wahrscheinlich der glühendste Europäer in der französischen Politik und befindet programmatisch: „Ich möchte, dass Frankreich sich selbst treu bleibt. Der einzige Weg, dies zu tun, ist Europa. Der Rest ist Folklore“, will in diesem Fall sagen, ohne praktischen Nutzen für die Menschen.

Glucksmann ist insofern eine Ausnahme, weil er im Wahlkampf tatsächlich über europäische Politik und nicht, wie fast alle anderen Kandidat*inne, nahezu ausschließlich über französische Innenpolitik spricht. „Wenn es meine Aufgabe ist, Frankreich zurück nach Europa und Europa nach Frankreich zu bringen, bin ich glücklich“, sagt er, vielleicht etwas pathetisch. Und programmatischer: „Ich glaube, dass Europa der einzige Maßstab ist, in dem wir den Bürgern die Macht zurückgeben können.“

Damit das gelingen kann, muss der unerwartet starke Kandidat aber zunächst die guten Prognosen in reale Stimmen umsetzen. Und damit einen Beitrag dazu liefern, dass die Sozialdemokraten die Europawahl in wenigen Wochen doch erfolgreicher gestalten können, als die vor fünf Jahren.

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Kay Walter

ist freiberuflicher Journalist in Paris.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Do., 23.05.2024 - 07:29

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Hier wird uns Raphael Glucksmann als Hoffnungsträger der PS vorgestellt, na ja er unterstützte auch mal ganz intensiv den Sarkosy - auch ein Hoffnungsträger der PS ???. Ich , ganz persönlich, halte seine Freunde namens Klitschko oder Saakaschwili nicht für Musterdemokraten - aber Hauptsache: Gegen die Russen.
Als Franzose würde mir eine Wahlentscheidung für diesen Mann doch Kopfschmerzen bereiten, aber da ich Deutscher bin haben meine Kopfschmerzen ander Gründe.