International

Öcalan-Brief: Was der Aufruf zur Auflösung der PKK für die Türkei bedeutet

Kurdenführer Abdullah Öcalan hat die verbotene PKK aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen und sich selbst aufzulösen. Die Türkei rätselt nun, was Öcalan damit bezweckt – und welche Rolle Staatspräsident Erdogan spielt.

von Kristina Karasu · 28. Februar 2025
Die Zweifel bleiben: In der Kurdenhochburg Diyarbakir hatten sich am Donnerstag tausende Menschen versammelt, um der Verlesung des Briefs von Abdullah Öcalan zu lauschen.

Die Zweifel bleiben: In der Kurdenhochburg Diyarbakir hatten sich am Donnerstag tausende Menschen versammelt, um der Verlesung des Briefs von Abdullah Öcalan zu lauschen.

Sichtlich gealtert ist Abdullah Öcalan auf dem Foto, dem ersten seit vielen Jahren. Der Gründer der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sitzt seit über 20 Jahren in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer. In der Türkei gilt er vielen als „Terror-Chef“ und „Babymörder“, andere verehren ihn noch immer als Anführer der Kurdenbewegung.

Am Donnertag besuchte eine Delegation der prokurdischen Partei DEM, Schwesterpartei der SPD, Öcalan im Gefängnis, es war das dritte Mal innerhalb der vergangenen Wochen. Anschließend verlasen sie in einem Istanbuler Hotelsaal Öcalans Brief, unter den gespannten Augen hunderter Journalist*innen aus aller Welt. Darin fordert Öcalan die PKK auf, ihre Waffen niederzulegen und sich selbst aufzulösen. Nun sei es an der Zeit, die Frage von mehr Autonomie nicht mit Waffengewalt, sondern mit demokratischen Mitteln zu beantworten. Die PKK solle einen Kongress einberufen und ihre Entscheidung treffen, so Öcalan.

Mehr als 40.000 Tote in über 40 Jahren

Lange hatte die PKK für einen eigenen Kurdenstaat gekämpft, in den vergangenen Jahren dieses Ziel jedoch offiziell aufgegeben und für mehr politische und kulturelle Selbstbestimmung der Kurd*innen innerhalb der Grenzen der Türkei gekämpft. Mehr als 40.000 Tote in über 40 Jahren forderte der Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Staat, die meisten auf kurdischer Seite. 

Unter welchen Bedingungen die PKK nun ihre Waffen niederlegen soll, ließ Öcalan offen. Er schloss in seinem Brief einen separaten Nationalstaat für die Kurd*innen ebenso aus wie eine Föderation oder administrative Autonomie. Genauso wenig äußerte Öcalan sich zu der Zukunft tausender kurdischer politischer Häftlinge im Land oder den zahlreichen kurdischen Bürgermeister*innen, die in den vergangenen  Monaten in der Türkei abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt wurden.

Viele offenen Fragen

So hinterließ Öcalans Botschaft im Hotelsaal freudige, aber auch fragende Gesichter. Ebenso in der Kurdenhochburg Diyarbakir, wo sich tausende Menschen versammelt hatten, um der Verlesung von Öcalans Brief zu lauschen. „Wir hegen Zweifel, ob die PKK tatsächlich ihre Waffen niederlegen wird“, sagte eine junge Frau aus dem kurdisch geprägten Batman. „Wir haben große Hoffnungen, aber was wird nun aus all denen im Gefängnis? Was wird aus den abgesetzten Bürgermeistern? Das wissen wir alles noch nicht“, sagt eine ältere kurdische Friedensaktivistin, die ebenfalls ihren Namen nicht nennen will.

Glückliche, erleichterte Gesichter zeigte die DEM-Delegation nach ihrem Besuch bei Öcalan. Doch mit Aussagen hält sie sich noch zurück. „Beide Seiten erwartet viel Arbeit“, so ein hochrangiger DEM-Vertreter. Wichtig sei auch, den Prozess der Bevölkerung gut zu vermitteln.

Wie antwortet Präsident Erdogan?

Gespannt blicken nun viele Menschen im Land darauf, was Präsident Erdogan zu Öcalans Aufruf sagen wird. Bisher hüllt er sich in Schweigen. In den vergangenen Wochen hatte er wiederholt erklärt, sein Ziel wäre eine „terrorfreie Türkei“. Wenn die PKK nicht selbst ihre Waffen niederlege, würde man sie mit Gewalt beenden. Ein Kurdenproblem existiere in der Türkei nicht mehr, so der Präsident. Friedensrhetorik klingt eigentlich anders.

Erdogan hatte bereits 2013 einen Friedensprozess mit der PKK gestartet, der scheiterte 2015. Diesmal hält Erdogan sich auffällig zurück, vermutlich um sich bis zuletzt alle Optionen offenzuhalten. Gestartet hatte den jüngsten Prozess ausgerechnet Erdogans ultranationalistischen Bündnispartner Devlet Bahceli – jahrelang der schärfste Gegner der Kurdenbewegung. Er schlug im Herbst 2024 überraschenderweise vor, Öcalan solle im türkischen Parlament sprechen und zur Waffenniederlegung aufrufen. Was damals von vielen im Land als absurdes politisches Manöver abgetan wurde, mündete nun in den Brief Öcalans. Gut möglich, dass auch der jetzige Prozess ganz anders verlaufen wird als erwartet.

Die Karten in der Region werden gerade neu gemischt

Was Erdogan bewegt haben könnte, auf die Kurd*innen zuzugehen, darüber rätselt man in der Türkei seit Monaten. Manche Analyst*innen glauben, Erdogan wolle eine neue Verfassung verabschieden, mit der er erneut gewählt werden kann. Dafür brauche er die Unterstützung der Kurd*innen. 

Viele Beobachter*innen sehen hingegen die politischen Entwicklungen in der Region als Auslöser. Während die PKK in der Türkei durch die Angriffe des türkischen Militärs in den vergangenen Jahren geschwächt wurde, haben PKK-nahe kurdische Kräfte in Syrien ein Autonomiegebiet geschaffen. Seit dem Sturz Assads ist die Zukunft dieses Gebietes ungewiss, die kurdischen Milizen verhandeln seit Wochen mit der Übergangsregierung in Damaskus über eine Eingliederung ihres Gebietes und ihrer Truppen in den neuen syrischen Staat

Erdogan hat begriffen, dass die Karten in der Region derzeit neu gemischt werden und es an der Zeit ist, neue Bündnisse zu schmieden. Gut möglich, dass die USA ihre Truppen aus der Region abziehen und ihre Unterstützung der syrischen Kurden aufgeben oder ganz im Gegenteil USA und Israel ihren Einfluss in der Region noch weiter ausbauen. Für beides muss die Türkei gewappnet sein. Ein neues Bündnis mit dem Kurden statt einem immerwährenden, zermürbenden Krieg könnte dafür das Mittel der Wahl sein. Die nächsten Wochen dürften zeigen, welchen Weg Erdogan wählen wird.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

Weitere interessante Rubriken entdecken

Noch keine Kommentare
Schreibe einen Kommentar

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.