Krise in Kurdengebieten: „Das Vertrauen zwischen HDP und AKP ist tief zerrüttet.“
picture alliance / NurPhoto
In 24 Gemeinden im Südosten der Türkei wurden in den vergangenen Wochen gewählte Bürgermeister der prokurdischen HDP entlassen und durch Zwangsverwalter aus Ankara ersetzt. 36 Bezirksbürgermeister sitzen im Gefängnis, 14 befinden sich in Untersuchungshaft, unter ihnen Adnan Selçuk Mizrakli, Bürgermeister der Millionen-Metropole Diyarbakır.
Als erster europäischer Politiker hat der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Nils Schmid die Stadt Anfang November besucht und mit Vertretern aus Politik und Zivilgesellschaft gesprochen.
Wie ist die Stimmung in Diyarbakır?
Rein äußerlich geht das Leben in der Stadt seinen gewohnten Gang. Die politische Lage dagegen ist sehr bedrückend. Nach der Absetzung des Bürgermeisters liegt eine bleierne Ruhe über der Stadt und der ganzen Region.
Wird diese Ruhe halten oder befürchten Sie eine Eskalation der Situation?
Die HDP tut alles dafür, dass es nicht zu einer weiteren Zuspitzung kommt. Auf Demonstrationen gegen das Vorgehen der türkischen Regierung wird in Diyarbakır verzichtet, da in diesem Fall mit einem harten Einschreiten des türkischen Militärs gerechnet wird. In allen Gesprächen, die ich mit Vertretern der HDP geführt habe, haben diese deutlich gemacht, dass sie auf Wahlen zur Lösung der Kurdenfrage setzen. Klar ist jedoch: Je häufiger gewählte Bürgermeister abgesetzt werden, desto unglaubwürdiger sind Wahlen. Das wichtigste Mittel zu einer politischen Lösung der Kurdenfrage in der Türkei wird durch das Vorgehen der türkischen Regierung stark geschwächt. Wenn sich in der Bevölkerung der Eindruck festsetzt, dass sie wählen kann sooft sie will und am Ende doch Ankara die Wahl annulliert, ist das verheerend. Das untergräbt das Vertrauen in demokratische Verfahren und Institutionen.
Bei Ihrem Besuch haben Sie auch mit Vertretern der Regierungspartei AKP gesprochen. Wie begründen die die Entmachtung der HDP-Bürgermeister?
Das Vorgehen wird damit begründet und gerechtfertigt, dass die Bürgermeister von der PKK gesteuert würden und dass sie sich nicht ausreichend vom Terror der PKK distanziert hätten. Dieses Argument zieht allerdings schon deshalb nicht, weil jeder Kandidat vor der Wahl eine Art Führungszeugnis vorlegen musste, um zugelassen zu werden. Der beste Weg, um die Kurden vor dem Einfluss der PKK zu schützen, ist, sie über Wahlen mit Vertretern im Parlament und in den Rathäusern an der türkischen Demokratie zu beteiligen. Genau dieser Weg ist aber durch die Absetzungen der vergangenen Wochen verbaut worden. Das Vertrauen zwischen HDP und AKP ist tief zerrüttet. Eine politische Lösung des Kurden-Konflikts ist damit leider in weite Ferne gerückt.
Die HDP diskutiert zurzeit darüber, aus Protest ihre Vertreter aus dem türkischen Parlament und auch aus den kommunalen Vertretungen zurückzuziehen. Wie würde das die Lage verändern?
Sollte sich die HDP zu diesem Schritt entscheiden, wäre das ein weiterer harter Schlag für eine politische Lösung des Kurden-Konflikts. Der historische Erfolg der HDP besteht ja darin, dass zum ersten Mal nicht nur einzelne Kandidaten, sondern eine Partei ins türkische Parlament gewählt worden ist, die auch kurdische Interessen vertritt. Das Parlament sollte der Ort sein, an dem über eine Verfassungsreform und andere Gesetze die Kurdenfrage gelöst wird. Ohne die gewählten Vertreter der HDP wird das nicht gehen.
Bekommt die HDP eigentlich Unterstützung von anderen Oppositionsparteien, etwa der sozialdemokratischen CHP?
Ja und das ist sehr wichtig. Die CHP hat sich sehr deutlich gegen die Absetzung der HDP-Bürgermeister ausgesprochen und damit die Demokratie in der Türkei verteidigt. Ein wichtiges Signal innerhalb der Türkei war auch, dass der neu gewählte Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, in die kurdischen Gebiete gereist ist, um seine Solidarität zu zeigen. Letzten Endes kann die Demokratie in der Türkei nur durch die Türken selbst bewahrt und verteidigt werden. Da ist so ein Schulterschluss ein wichtiges Zeichen.
Eine mögliche Vermittlung der EU würde also nichts bringen?
Dafür gibt es wenig Spielräume. Wichtig war, dass die EU sehr schnell die türkische Militäroffensive in Nordsyrien verurteilt hat. Das war beim Vormarsch auf Afrin im vergangenen Jahr ja noch ganz anders. Dieses geschlossene Vorgehen hat die Türkei durchaus überrascht. Die Unterstützung der Europäer ist wichtig. Den Kurden-Konflikt beilegen können sie aber nicht.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.