Naher Osten: Wie Erdogan sich in der Region unverzichtbar macht
Nach dem Sturz von Assad in Syrien wächst die Bedeutung des türkischen Präsidenten in der Region. Das nutzt Erdogan für ein kompromissloses Vorgehen gegen innenpolitische Gegner*innen.
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Stippvisite in Ankara: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trifft den türkischen Präsidenten Erdogan.
Erdogans Gästeliste in dieser Woche ist vielsagend: Am Dienstag ließ er den neuen syrischen Interimspräsidenten Ahmed al-Scharaa mit einer staatlichen Maschine einfliegen, nur einen Tag später schaute Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf seiner Rückreise von Saudi-Arabien und Jordanien bei ihm in Ankara vorbei. Der Nahe Osten ist an einem Wendepunkt – und Erdogan weiß, dass man ihn international derzeit als wichtigen Angelpunkt für die Region betrachtet.
Gaza, Ukraine, Syrien – viel zu bereden mit Erdogan
Gesprächsstoff zwischen Steinmeier und Erdogan waren die Entwicklungen in Syrien, aber auch in Gaza und der Ukraine. Anschließend betonten beide die enge und „freundschaftliche“ Beziehung zwischen beiden Ländern, hüteten sich auffallend vor provozierender Rhetorik.
Tatsächlich sind sich Berlin und Ankara außenpolitisch derzeit in vielen Punkten einig: Beim Thema Gaza setzen beide auf einen dauerhaften Waffenstillstand und eine Zwei-Staaten-Lösung. Steinmeier ebenso wie der türkische Außenminister Hakan Fidan kritisierten am Mittwoch Trumps Pläne, Gaza unter US-Kontrolle zu stellen. Beide Seiten verurteilen Russlands Vorgehen in der Ukraine, gleichzeitig wird Erdogan schon länger als möglicher Vermittler für einen Friedensprozess gehandelt.
Umgang mit Kurd*innen bleibt strittiges Thema
Einig ist man sich auch, dass die Türkei eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau Syriens spielen soll. Ankara ebenso wie Berlin hoffen darauf, dass viele syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren, wenn sich dort die Verhältnisse stabilisieren. Beide mahnen an die neue syrische Übergangsregierung, die Rechte aller ethnischen und religiösen Minderheiten zu wahren und setzen sich dafür ein, dass die Grenzen Syriens gewahrt werden.
Komplizierter wird es, wenn es um die syrischen Kurd*innen geht. Erdogan geht schon seit Jahren militärisch gegen das kurdische Autonomiegebiet im Nordosten Syriens vor, erklärt die dortigen Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) als Ableger der PKK und Bedrohung für die Türkei. Tatsächlich finden sich so einige PKK-Kämpfer*innen in den Reihen der SDF, ihr Oberbefehlshaber Mazlum Abdi gilt als PKK-Veteran. Gleichzeitig erinnert Berlin immer wieder daran, dass die Kurdenmilizen als Verbündete der USA erfolgreich den IS besiegt haben. Zudem ist die SDF mit der Bewachung von Gefängniscamps in Syrien betraut, in der IS-Kämpfer und ihre Familien einsitzen.
Wie weiter mit der SDF?
Das NATO-Land Türkei schlägt vor, selbst diese Aufgabe zu übernehmen und zukünftig gemeinsam mit Syrien, dem Irak und Jordanien den IS zu bewachen. Berlin steht diesem Vorschlag sehr skeptisch gegenüber. Noch unklar ist, wie sich die USA bei diesem Thema verhalten, ob sie ihre Allianz mit der SDF fortführen oder ihre Truppen aus der Region abziehen werden.
Syriens Präsident al-Scharaa fordert, die SDF solle ein Teil der syrischen Armee werden. Im Interview mit dem Economist erklärte er jüngst, die Gespräche mit der kurdischen Führung darüber dauerten an. Er fügte hinzu, die Türkei habe sich auf eine großangelegte Offensive gegen das SDF-Gebiet eingestellt. Doch er habe Ankara gebeten abzuwarten, um Raum für Verhandlungen zu schaffen.
Enge Zusammenarbeit mit Syrien
Ausgesprochen harmonisch zeigten sich al-Scharaa und Erdogan am Dienstag in Ankara, betonten ihr Ziel einer strategischen Partnerschaft. Als al-Scharaa noch nicht in Anzug und Krawatte auftrat, sondern als Dschihadist in Kampfuniform die Islamistengruppe HTS anführte, waren seine Beziehungen zu Ankara schwieriger.
Denn Ankara unterstützte jahrelang eigentlich eine andere Islamisten-Gruppe in Syrien, die Syrische Nationale Armee (SNA). Die lieferte sich in der Vergangenheit immer mal wieder Gefechten mit der HTS. Doch klar ist auch, dass die HTS ohne die Unterstützung Ankaras Damaskus kaum hätte erobern können. Spätestens seit Assads Sturz setzt Erdogan offen auf enge Zusammenarbeit.
Friedensprozess mit der PKK zeichnet sich ab
Zugleich beeinflusst der Machtwechsel in Syrien auch die türkische Innenpolitik. Derzeit zeichnet sich ein neuer Friedensprozess mit der PKK ab. Deren Führer Abdullah Öcalan sitzt seit 1999 in Isolationshaft, doch auf Initiative ausgerechnet von Erdogans ultrarechtem Bündnispartner Devlet Bahceli konnte eine Delegation von Kurdenpolitikern Öcalan in den letzten Wochen zweimal besuchen.
Über sie ließ Öcalan verlauten, dass er zu einem neuen Friedensprozess bereit wäre. Noch in diesem Monat könnte er die PKK dazu auffordern, die Waffen niederzulegen. Ob sie dem folgen wird, ist unklar. Vollkommen unklar sind auch die Bedingungen und Forderungen beider Seiten. Politische Analyst*innen jedoch sind sich einig, dass die veränderte Lage in Syrien und dem Nahen Osten wohl der Grund für diese Initiative ist. Erdogan hat erkannt, dass sich die Machtverhältnisse in der Region derzeit verschieben – für ihn eine historische Chance.
Hartes Vorgehen gegen innenpolitische Gegner*innen
Eine Lösung der Kurdenfrage und mehr Demokratie in der Türkei zeichnen sich allerdings nicht ab. Erdogan setzt weiterhin auf harte Rhetorik, verleugnet das Kurdenproblem und verspricht lediglich eine „terrorfreie Türkei“. Die Terroristen hätten die Wahl, selbst die Waffen niederzulegen oder vernichtet zu werden, so der Präsident. Gleichzeitig wurden in der Türkei den letzten Wochen und Monaten zahlreiche kurdische Bürgermeister*innen abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt, die Justiz wirft ihnen Terrorunterstützung vor.
Außerdem ließ man in der letzten Woche zahlreiche türkische Journalist*innen festnehmen, und gegen den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu fordert man in einem neuen Verfahren sieben Jahre Haft und ein Politikverbot wegen angeblicher Beleidigung eines Staatsanwaltes.
Erdogan spielt augenscheinlich alle Tasten der politischen Klaviatur, setzt auf Zuckerbrot und Peitsche. Er weiß, dass man das international derzeit großzügig übersieht. So sprach Bundespräsident Steinmeier am Mittwoch öffentlich nur im Nebensatz von Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.