Kühnert auf Wandertour in Thüringen: Keine kalten Füße im Umfrage-Tal
Die SPD könnte in Thüringen den Einzug in den Landtag verpassen. Generalsekretär Kevin Kühnert will helfen, das zu verhindern, und wandert auf den Spuren abhanden gekommener Wähler*innen.
Kilian Marquardt
Kevin Kühnert watet durchs Kneipp-Becken in Friedrichroda.
Es ist quasi der berühmte Sprung ins kalte Wasser: Im Kurpark Friedrichroda zieht Kevin Kühnert Schuhe und Socken aus und macht einen großen Schritt ins kalte Nass. Die Sonne scheint durch das Blattwerk des Thüringer Walds. Ein älteres Paar sitzt auf einer Bank. Dass der SPD-Generalsekretär jetzt im Kneipp-Becken an ihnen vorbeiwatet – damit haben sie wohl nicht gerechnet. Der Mann hält mit dem Eisschlecken inne, fragt, ob er ein Foto machen darf. Dem 35-Jährigen ist das recht, für solche Momente ist er nach Thüringen gekommen.
Der Generalsekretär hat wieder seine Wanderstiefel geschnürt. Diesmal unterstützt er den Landtagswahlkampf im Freistaat. Eine Woche lang geht es durch Wald und Wiesen: von Altenburg nach Ronneburg, von Themar nach Ilmenau. Dabei zeigt Kühnert keine kalten Füße, der Generalsekretär wandert trotzig durchs Umfrage-Tal seiner Partei: In drei Wochen wählt Thüringen neben Sachsen einen neuen Landtag. In aktuellen Umfragen steht die AfD mit 30 Prozent an der Spitze. Die SPD ist in ihrem Gründungsland auf sieben Prozent gerutscht. Wenn’s schlecht läuft, muss sie die Fünf-Prozent-Hürde fürchten.
Appell für „langweilige Politik“
All dem begegnet Kühnert sportlich. In Friedrichroda watet er nicht nur durch Kaltwasser, er lässt sich auch den Benediktinerpfad und Schloss Reinhardsbrunn zeigen. Ihn begleiten Pressevertreter*innen, Genoss*innen und Thüringens Innenminister Georg Maier (links im Foto weiter unten, neben Kühnert), SPD-Spitzenkandidat und ebenfalls Wanderer aus Leidenschaft. Im vergangenen Jahr, erzählt Kühnert, seien sie beide in Österreich gewandert, rein zufällig im selben Tal. Hätten das aber erst später bemerkt. „Da haben wir entschieden, wir machen das mal zusammen.“
Damit meint er nicht nur das Wandern. Die Parteikollegen wollen die Stimmung im Land auffangen, mit Menschen diskutieren. Nicht alles dem routinierten Wahlkampf überlassen. Da gebe es eine „gewisse Diskrepanz“, sagt Kühnert: Zwischen den Themen, die auf den Wahlplakaten stehen – und solchen, die wirklich im Landtag verhandelt werden können. Ein Seitenhieb auf Sahra Wagenknecht, ihr Bündnis (BSW) wirbt im Freistaat für Frieden mit Russland. Der wird wohl kaum in Erfurt verhandelt.
Georg Maier hingegen setzt auf Soziales: 500 Euro Weihnachtsgeld für Grundrente-Bezieher, 15 Euro Mindestlohn, aber auch mehr Polizei. Kühnert sagt, Maier mache ein „langweiliges Politikangebot“. Aber in Zeiten, in denen andere Parteien Politik mit Krieg machten, „brauchen wir langweilige Politik.“
„Ich bin nicht die Betreuungsperson von Christian Lindner“
Die Begegnung mit dem einheimischen Paar auf der Bank bleibt die Ausnahme. Die meisten Menschen, auf die Kühnert trifft, sind Genoss*innen oder der SPD zumindest wohlgesonnen und extra angereist. Störer*innen gab es selten, zieht Kühnert eine erste Zwischenbilanz, anders als in den Sozialen Medien seien die Menschen sehr respektvoll.
Fragen beantwortet er mit sachlichen Fakten: Der Niedriglohnsektor in Deutschland sei so niedrig, wie seit der Wende nicht mehr. Das sei nicht der Verdienst „der Zahnfee“, sondern von erhöhtem Mindestlohn, Wohngeld, Inflationsausgleich, Errungenschaften der SPD. Aber warum erkennen die Menschen das nicht? Die Leute würden die „Wirksamkeit von Politik“ nicht mehr spüren, sagt Kühnert. Schuld daran seien auch die Reibungen in der Koalition. „Ich bin nicht die Betreuungsperson von Christian Lindner“, sagt Kühnert, und macht damit einen zweiten Seitenhieb: Der FDP-Finanzminister hatte zuletzt am Kanzleramt vorbei ein Haushaltsloch verkündet und eine neue Debatte losgetreten.
Tag sieben der Wanderung, bei mehr als 30 Grad geht es im Erfurter Steigerwald den Hang hoch. Die Sonne brennt, alle Anwesenden schwitzen. Der Generalsekretär, jetzt mit Drei-Tage-Bart, sieht erschöpft aus. Begleitet wird er von Denny Möller. Der Landtagsabgeordnete sorgt sich um das Wahlergebnis, die größte Gefahr für die SPD sieht er in Wagenknechts Linkspopulismus. „Wenn wir hier mit dem Wählerwillen zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen, müssen wir das akzeptieren.“
Zwischen Sozialpolitik und Krieg
Am Abend steht Kühnert auf dem Wenigemarkt in Erfurt. Die SPD hat dort eine kleine Bühne aufgebaut, es gibt Bratwurst und rote Brause. Recht viele Menschen sind gekommen. Ein älterer Mann hält dem Generalsekretär einen Zeitungsartikel unter die Nase, ein Zeit-Porträt von SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi, der der Regierung ihre Haltung gegen Russland vorwirft. Dem sei auch der Kragen geplatzt, sagt der Mann, „auch ich fühle mich total betrogen.“ Bei der Bundestagswahl 2021 habe er noch SPD gewählt, jetzt bringe ihn die Außenpolitik auf die Palme. „Der Amerikaner“ habe Putin total umzingelt. sagt er aufgebracht, der Westen habe den Krieg doch selbst verursacht.
Ein bisschen fehlen Kühnert jetzt doch die Argumente. „Und glauben Sie, den Menschen in der Ukraine platzt nicht der Kragen, weil Putin ihr Land bombardiert?“, fragt er, bevor er sich auf die Bühne begibt, um für die Thüringer SPD zu werben. Grundrente, kostenloses Essen in Kitas, „konkrete Gerechtigkeitsfragen“. „Entscheiden Sie sich für langweilige Politik“, ruft er in die Menge. Ein weiterer älterer Mann drängt sich nach vorne. „Das glaubt er doch wohl selbst nicht“, schnaubt er, und zückt das Handy, um Kühnerts Auftritt zu filmen. Womöglich landet das Video auf Social Media.
Der Bürger mit dem Dohnanyi-Artikel antwortet auf Nachfrage, die AfD wähle er wahrscheinlich nicht. Aber Sahra Wagenknecht, die habe ihn total begeistert. Das Bündnis erreicht in Umfragen aus dem Stand 19 Prozent. Wer die Mehrheit haben will, kommt am BSW nicht vorbei. Das gilt wohl auch für die SPD.
Kevin kneipt
Thüringen ! Eisenach, Gotha, Erfurt, diese 3 Städte standen mal für sozialdemokratische Programmatik; in diesem Artikel las ich aber nichts von Programmatik, und schon garnicht von sozialdemokratischer.
ja, aber im Wahlkampf wird grobes Muster verlangt, da ist für
die Details von Parteiprogrammen wenig zeit und Raum, das will bei dieser Gelegenheit keiner hören. Die Leute wollen Prominenz zum anfassen, darum geht es im Wahlkampf, und das haben unsere genossen auch gut verstanden, so dass wir mit großer Zuversicht auf die kommenden Wahlen blicken können