75 Jahre Grundgesetz: Wo die Verfassung ein Update braucht
1949 wurde in Bonn das Grundgesetz verabschiedet. Nur wenige Kilometer entfernt fragt 75 Jahre später die Friedrich-Ebert-Stiftung nach der Aktualität unserer Verfassung und ehrt eine ihrer Mütter.
Janine Schmitz/photothek.de
Das Grundgesetz wird in diesem Jahr 75 Jahre alt.
Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat einen neuen Veranstaltungssaal. Er wurde nicht etwa neu gebaut, trägt aber seit Montag einen neuen Namen: Elisabeth-Selbert-Saal. Die frühere SPD-Politikerin war vor ziemlich genau 75 Jahren eine von nur vier Frauen im Parlamentarischen Rat, der die Aufgabe hatte, ein Grundgesetz für die Bundesrepublik zu verfassen. Auf die Nordhessin geht einer der entscheidenden Sätze im Grundgesetz maßgeblich zurück: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“
Selbert startete „erste große feministische Bewegung“
„Elisabeth Selbert hatte Mut. Sie gehörte zu der Kategorie Menschen, die du nicht los wirst“, sagt Martin Schulz am Montagabend im nun neu benannten Elisabeth-Selbert-Saal der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn. Der Vorsitzende der Stiftung sagt das nicht abschätzig, sondern voller Anerkennung für ihre historische Leistung. Die Unterstützung, die Selbert damals in ihrem Kampf für Gleichberechtigung von Frauen aus der gesamten Bundesrepublik erfahren hat, nennt Schulz „eine erste große feministische Bewegung, die diese Frau durchgesetzt hat“.
Um die historische Leistung von Selbert und den anderen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates zu würdigen, hat die Stiftung zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Verfassung im Fluss“ eingeladen. Es geht um nicht weniger als eine Bestandsaufnahme mit Blick auf das Grundgesetz: Wo kommen wir hin, wo stehen wir, wo wollen wir hin? Schulz sagt daher auch: „Ich finde unsere Verfassung toll, aber sie muss weiterentwickelt und aktualisiert werden.“ Denn eine Verfassung sei immer nur so stark, wie Verfassung und Text zusammenpassten.
Martin Schulz
Ich finde unsere Verfassung toll, aber sie muss weiterentwickelt und aktualisiert werden.
Einig ist sich Schulz in jedem Fall mit dem Ökonomen Jens Südekum, dass sie nichts gegen eine Aktualisierung von Artikel 115 des Grundgesetzes einzuwenden hätten. Darin ist seit 15 Jahren die sogenannte Schuldenbremse geregelt, die vorsieht, dass Bund und Länder im Regelfall ausgeglichene Haushalte vorlegen sollen. Die Schuldenbremse sei schon alleine „verfassungsästhetisch“ kein Glanzstück, kritisiert Südekum und fragt in seinem Kurzvortrag: Wie konnte es soweit kommen?
Südekum: „Reform der Schuldenbremse wird kommen“
Zur Einführung der Schuldenbremse sei es unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise 2008/09 gekommen. Ihre Wurzeln lägen jedoch tiefer und reichten bis in die 1970er-Jahre zurück. Denn die damals entstandene Public-Choice-Theorie gehe mit seinem Konzept des „Deficit spending“ davon aus, dass Politiker*innen grundsätzlich vor allem ihr aktuelles Ansehen im Blick hätten. Diese Theorie greife jedoch zu kurz, meint Südekum.
In den ersten Jahren nach ihrer Einführung habe sich zunächst gezeigt: „Solange die Sonne schien, konnte man mit der Schuldenbremse gut leben.“ Inzwischen sei es jedoch einsam um sie geworden, spätestens nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes im vergangenen Jahr, das Südekum „beispiellos streng“ nennt und das die Schuldenbremse „maximal scharf gestellt“, ihr aber zugleich möglicherweise dadurch den Rest gegeben habe. Südekum zeigt sich jedenfalls überzeugt: „Es ist nicht die Frage, ob es zu einer Reform der Schuldenbremse kommen wird, sondern wann.“
Deutsche Einheit als verpasste Chance
Die 1974 in Eisenhüttenstadt geborene Journalistin Sabine Rennefanz zeigt sich angesichts von 75 Jahren Grundgesetz wenig in Feierstimmung. Mit Begrifflichkeiten á la „Demokratie made in Bonn“ könne sie wenig anfangen, macht sie deutlich. Mit Blick auf den ersten Artikel des Grundgesetzes fragt sie: „Was ist eigentlich mit der Würde der Ostdeutschen?“
Letztlich werde es in diesem Jahr so sein, dass sich die alte Bundesrepublik selbst feiere, meint sie und kritisiert, dass 1990 eine historische Chance verpasst worden sei, mit Ideen aus Ost und West gemeinsam eine neue Verfassung zu schaffen. Stattdessen habe es eine ungleiche Zusammenführung zweier Staaten gegeben. „Menschen, die im Winter ’89 noch den Rausch der Selbstermächtigung erlebt haben, mussten 1990 bundesdeutsche Gesetzesblätter lesen“, kritisiert Rennefanz.
Was die junge Generation fordert
Zwei Vertreter der jüngeren Generation fordern zumindest eine Aktualisierung des Grundgesetzes um zwei für sie wichtige Themen. So sagt Pit Terjung von Fridays for Future: „Es ist Zeit für ein Update, das dem Schutz der ökologischen Grundlagen Rechnung trägt.“ Dies sei für seine Generation eine existentielle Frage. Auch Daryoush Danaii, Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, hat eine klare Forderung: „Spätestens zum 80. Geburtstag muss das Recht auf Bildung im Grundgesetz verankert werden.“ Denn dies sei eine historische Leerstelle im Grundgesetz. „Nun ist es Zeit, sie zu füllen“, macht Danaii deutlich.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo