Geschichte

Wie Paul Singer für die SPD und den "vorwärts" kämpfte

Radikaler Sozialist, Fabrikant und Gegenspieler der Obrigkeit: Vor 180 Jahren wurde mit Paul Singer eine prägende Persönlichkeit der SPD geboren.

von Lothar Pollähne · 17. Januar 2024
Paul Singer wurde am 16. Januar 1884 in Berlin geboren

Prägende Persönlichkeit an der Spitze der SPD: Paul Singer kam am 16. Januar 1844 in Berlin zur Welt.

Wenige Tage nach dem Ende der Bismarckschen Sozialistengesetze hält die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) vom 12. bis zum 18. Oktober 1890 ihren Parteitag in Halle ab. Es wird ihr letzter sein. Auf der Tagesordnung stehen Organisationsfragen, Überlegungen für ein Parteiprogramm, die Haltung der Partei zur Streikfrage und die Neuordnung der Parteipresse. 

Wilhelm Liebknecht hält das Programm-Referat, August Bebel und Ignaz Auer unterbreiten ihre Vorstellungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Partei. Die heißt fortan „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD), die Parteileitung wird in Berlin etabliert und zum offiziellen Parteiorgan wird das „Berliner Volksblatt“ bestimmt, das vom 1. Januar 1891 an den Traditionsnamen „vorwärts“ trägt. 

Zu gleichberechtigten Parteivorsitzenden werden Alwin Gerisch und Paul Singer gewählt, der 100 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhält. Damit ehrt die neue Partei einen Mann, der während der bleiernen Zeit der Sozialistengesetze mit taktischem Geschick vor allem in Berlin die Parteigeschäfte am Laufen gehalten hat. Paul Singer ist der Vertraute und Freund der Partei-Granden Wilhelm Liebknecht und August Bebel, und er ist die unbestrittene Nummer Eins der Berliner Sozialdemokratie. 

Ein atypischer Weg zur Sozialdemokratie

Paul Singers Weg zur Sozialdemokratie ist typisch atypisch. Er wird am 16. Januar 1844 in Berlin als jüngster Sohn des jüdischen Gold- und Silberhändlers Jacob und der Kauffrau Caroline Singer geboren und wächst zunächst mit acht Geschwistern in behüteten bürgerlichen Verhältnissen auf. 

Als der Vater 1848 stirbt, wird die wirtschaftliche Lage der Familie prekär. Singers Mutter Caroline betreibt, der Not gehorchend, eine Posament- und Strumpfwarenhandlung, in der auch die älteren Schwestern tätig werden, um das Familieneinkommen aufzubessern. 

Paul Singer besucht die „Königliche Realschule“, die er jedoch 1858 aus finanziellen Gründen verlassen muss. Er absolviert eine Lehre in einer Textilhandlung und arbeitet hernach als Handlungsgehilfe. 1869 gründet er gemeinsam mit seinem drei Jahre älteren Bruder Heinrich, ohne nennenswertes Eigenkapital, in der Kommandantenstraße 84 die „Damenmäntelfabrik Gebrüder Singer“, die sich in wenigen Jahren zu einem angesehenen und gewinnbringenden Unternehmen entwickelt. 

Verbindung durch jüdische Herkunft

1867 schließt sich Paul Singer der liberalen „Deutschen Fortschrittspartei“ an und positioniert sich dort auf dem radikaldemokratisch, republikanischen Flügel, dessen Leitfigur der Arzt Johann Jacoby ist. Möglicherweise hat ihn Jacobys jüdische Herkunft und vor allem dessen Credo beeindruckt, das auch für Paul Singer sinnstiftend wirkt: „Wie ich selbst Jude und Deutscher bin, so kann in mir der Jude nicht frei werden ohne den Deutschen und der Deutsche nicht ohne den Juden.“ 

Wie später auch Johann Jacoby vereinsamt Paul Singer in der Deutschen Fortschrittspartei und wendet sich, beeindruckt von den Aktivitäten August Bebels und Wilhelm Liebknechts, den Eisenachern, also der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“, zu, die er zunächst nur mit finanziellen Zuwendungen unterstützt.

Aus geschäftlichen Gründen engagiert sich der an einen bürgerlichen Lebensstil gewöhnte Paul Singer in der Korporation der Kaufmannschaft von Berlin und im Verein Berliner Kaufleute und Industrieller. Auf seine Initiative hin wird im Rahmen der bürgerlichen Wohlfahrtspflege der „Berliner Asylverein für Obdachlose“ gegründet. Singer selbst wird 1875 Kurator des Männerasyls und gilt seither als Pionier der Obdachlosenarbeit. 

Paul Singer entdeckt die Tagespolitik

Bismarcks „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ und die damit verbundenen Repressalien veranlassen Paul Singer 1878, sich offen zur Partei zu bekennen und sich aktiv in die Tagespolitik einzumischen. 

Zu diesem Zeitpunkt hat er bei der politischen Polizei bereits eine umfangreiche Akte als „verdeckter Socialist und Wohltäter“. Da Singer finanziell unabhängig ist und sich seine Arbeitszeiten selbst einteilen kann, avanciert er schnell zu einer der Führungsfiguren der Berliner Sozialdemokratie. Dabei helfen ihm auch seine planerischen Talente und der Zuspruch von August Bebel und Wilhelm Liebknecht. 

1883 kandidiert Paul Singer bei den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung. Für die Konservativen stellt Singers Kandidatur eine Provokation dar. Er wird vor allem von der „Berliner Bewegung“ des aggressiv antisemitischen Hofpredigers Adolf Stöcker als jüdischer Wirtschaftsboss diffamiert. 

Einsatz für Interessen der Arbeiter*innen

Singer setzt dagegen die Gewissheit, „dass die Arbeiter auch in Zukunft die Gleichheit für alle hochhalten werden, dass sie nicht fragen, wer ist der Mann, sondern: Wie ist der Mann.“ Trotz aller widerlichen Anfeindungen wird Singer gewählt, weil er seinen Wählern die Gewissheit vermittelt, dass er sich für die Interessen der Arbeiter*innen einsetzen wird. 

1884 kandidiert Singer, wieder von antisemitischen Anfeindungen begleitet, für den Reichstag. Bei dieser Kandidatur verfügt er über ein publizistisches Medium, das er selbst mit seinen finanziellen Mitteln ins Leben gerufen hat: das „Berliner Volksblatt“. Als Singer am 26. Oktober des Jahres gewählt wird, ist das Volksblatt bereits eine etablierte und unüberhörbare linke Stimme in Berlin. 

1886 wird zum Jahr der Drangsalierungen für Paul Singer. Nach einer Rede auf einer Volksversammlung in Dresden, bei der ihm „eine Beleidigung des Bundesrats entschlüpfte“, wie es Bebel in seinem Erinnerungen vermerkt, erlässt das Sächsische Innenministerium eine Verordnung, „wonach Singer das öffentliche Reden in Sachsen ein für allemal zu verbieten sei.“ 

Singer wird aus Berlin ausgewiesen

Am 29. Juni 1886 wird der Berliner Paul Singer aus Berlin ausgewiesen, nachdem er bei den Beratungen zur Verlängerung des Sozialistengesetzes im Reichstag enthüllt hatte, dass ein Polizist unter falschem Namen den Berliner Arbeiterverein infiltriert hatte, um die Vereinsmitglieder zu Anschlägen zu provozieren. 

Die Ausweisung wird von Massenprotesten der Berliner Arbeiterschaft begleitet. Berlin darf Paul Singer fortan nur während der Reichstagssitzungen besuchen. Erst 1890 kann er wieder seinen ständigen Wohnsitz in der Hauptstadt nehmen.

Zum Ende des Jahres 1887 scheidet Paul Singer mit Gewinn aus seiner Damenmäntelfabrik aus und beginnt ein Leben als linker bürgerlich-sozialistischer Privatier. Vorausgegangen war eine Hetzkampagne gegen den jüdischen Unternehmer, dem die Ausbeutung der „armen Berliner Näherinnen und Arbeiterinnen“ vorgeworfen wird.

Solidarität mit jüdischer Gemeinde

Paul Singer lässt sich die Beleidigung nicht anmerken und macht, wie sonst auch, keine Anmerkungen zu seiner jüdischen Herkunft. Auch wenn er sich nicht für jüdische Angelegenheiten interessiert und der Religion neutral distanziert gegenübersteht, tritt Paul Singer nie aus der jüdischen Gemeinde aus, weil er Solidarität mit den Angefeindeten empfindet. 

Das verbindet ihn mit Rosa Luxemburg, der er als Linker politisch zwar durchaus nahesteht, zu der er jedoch keine freundschaftliche Beziehung entwickeln kann. Für den sozialdemokratischen Marxisten Paul Singer, dem das „Erfurter Programm“ von 1891 als politische Richtschnur dient, ist die jüdische Assimilation ohnehin nur in einer sozialistischen Gesellschaft denkbar — und für deren Erkämpfung setzt er seinen ganzen politischen Elan ein. 

Mehr als 20 Jahre lang steht Paul Singer an der Spitze der SPD, die längste Zeit davon gemeinsam mit August Bebel, der von 1892 an das Gesicht der Partei in der Öffentlichkeit ist. Diese Rolle überlässt ihm Singer gerne. Er selbst kümmert sich im Hintergrund um die Öffentlichkeitsarbeit der Partei, wobei ihm der Ausbau des Zentralorgans ein Herzensanliegen ist. 

Den "vorwärts“ aus eigener Tasche finanziert

So lange wie nötig finanziert Paul Singer den „vorwärts“ aus eigener Tasche. Als das Blatt 1909 mit einer 24-seitigen Sonderausgabe sein 25-jähriges Bestehen feiert, reiben sich viele Genoss*innen die Augen. Der erste „Vorwärts“, der 1876 unter der Redaktion Wilhelm Liebknechts in Leipzig erschienen war, findet in der Jubiläumsausgabe nur als Randnotiz statt. 

Auch Paul Singer, dem die Ehre zuteil wird, den Leitartikel zu schreiben, nennt ungeniert die von ihm 1884 selbst veranlasste Gründung des „Berliner Volksblatts“ als Geburtsstunde des Zentralorgans. Das könnte als Konzession an die radikale Berliner Parteiorganisation verstanden werden, die jahrelang ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Parteivorstand eingefordert hat, mitunter sehr zum Verdruss von August Bebel und Paul Singer. 1927 enthüllt Otto Wels auf dem Kieler Parteitag, dass Bebel und Singer mit ihrem Rücktritt als Parteivorsitzende gedroht hatten, sollte der „vorwärts“ in ein Berliner Lokalblatt umgewandelt werden. 

Am 31. Januar 1911 stirbt der radikalsozialistische Bourgeois Paul Singer in Berlin. Seine Beerdigung auf dem Friedhof Friedrichsfelde am 6. Februar wird zur größten politischen Demonstration, die Berlin vor dem Ersten Weltkrieg erlebt. Eine Million Menschen sollen nach neutralen Schätzungen die Straßen gesäumt haben, um „ihrem Paul“ die letzte Ehre zu erweisen. 

Singers Begräbnis legt Berlin lahm

Das Verkehrschaos muss immens gewesen sein, denn am 7. Februar erscheint Paul Singers Lieblingskind, der „vorwärts“, nicht, weil die Belegschaft nicht rechtzeitig in die Verlagsräume zurückkehren konnte.

Autor*in
Avatar
Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

Weitere interessante Rubriken entdecken

0 Kommentare
Noch keine Kommentare