Geschichte

Wer war Paul Singer?

Eine alte Volksweisheit sagt "Wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wo er sich befindet und wohin ihn sein Weg führt". Das gilt für Individuen ebenso wie für Gemeinschaften und Institutionen. Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen haben besonderen Grund, uns immer wieder unserer Geschichte zu erinnern und uns auch die Männer und Frauen zu vergegenwärtigen, die diese Geschichte in besonderer Weise geprägt haben.
von Hans-Jochen Vogel · 11. September 2008
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Denn wir sind die älteste Partei unseres Landes und die einzige, die seit über einhundert Jahren ihren Namen unverändert führt. Und wir können auf unsere Geschichte stolz sein und aus ihr neue Kraft für die Gegenwart schöpfen.

Das gilt für den Kampf der deutschen Sozialdemokratie gegen die heraufziehende Katastrophe des NS-Gewaltregimes und den Widerstand, den so viele aus unseren Reihen dann dem Regime entgegengesetzt haben. Das gilt nicht minder für unseren Anteil am Wiederaufstieg unseres Volkes nach 1945 und an der Überwindung seiner Teilung. Es gilt aber in besonderer Weise auch für die unermüdlichen Anstrengungen mehrerer Generationen für ein demokratisches und rechtsstaatliches Deutschland, in dem soziale Gerechtigkeit jedem Mann und jeder Frau ein Leben in Würde und Freiheit ermöglichen sollte - also für die Jahrzehnte von der Gründung der Partei im Jahre 1863 bis in die Weimarer Republik. Gewiss gab es auch immer wieder Irrtümer und Rückschläge.

Aber sie wurden bestanden. Sie endeten nie in Mutlosigkeit und Resignation, sondern in der Suche nach besseren Antworten und in dem erneuten Engagement für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Auch daraus können wir Heutigen lernen. Heute wollen wir uns an einen Mann erinnern, der sich in diesen frühen Jahrzehnten neben August Bebel, Wilhelm Liebknecht, Ignaz Auer und anderen um die Sozialdemokratie in hervorragender Weise verdient gemacht hat. Nämlich an Paul Singer! Mehr noch - wir wollen dem Haus, in dem wir uns befinden, seinen Namen geben und ihn damit über den Tag hinaus im Bewusstsein der Menschen gegenwärtig halten, die hier aus- und eingehen oder mit ihm sonst in Berührung kommen.

Wir holen damit auf überörtlicher, ja in gewissem Sinne auf nationaler Ebene das nach, was dankenswerterweise der 1995 als freier Träger der Jugendhilfe im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg gegründete Paul-Singer-Verein auf seine Weise bereits tut, sich aber an einem anderen Ort trotz andauernder Bemühungen nicht verwirklichen ließ.

Wer war Paul Singer?

Warum verdient er unsere Aufmerksamkeit auch fast hundert Jahre nach seinem Tode und auch in Zukunft? Ursula Reuter hat ihm eine sehr lesenswerte Biographie gewidmet, aus der ich jetzt die wichtigsten Daten entnehme und damit die Antworten auf meine Fragen zu geben versuche. Geboren wurde er 1844 als neuntes Kind jüdischer Eltern. Sein Vater - ein Gold- und Silberhändler - starb schon vier Jahre nach seiner Geburt. Paul Singer wuchs deshalb unter schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen auf, musste den Besuch der Realschule vorzeitig abbrechen und absolvierte dann eine Kaufmannslehre.

Als Handlungsgehilfe in verschiedenen Konfektionsfirmen tätig engagierte er sich schon früh auch politisch. Mit achtzehn Jahren schloss er sich zunächst einer linken Gruppe in der liberalen "Deutschen Fortschrittspartei" an. Nach Kontakten mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht wechselte er 1868 zum Berliner Arbeiterverein und beteiligte sich noch im gleichen Jahr an der Gründung des "Demokratischen Arbeitervereins". 1869 tritt er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. Im selben Jahr rufen sein ältester Bruder und er die Damenmäntel-Fabrik "Gebrüder Singer" ins Leben, die sich - bis 1887 auch unter seiner Leitung - zu einem überaus erfolgreichen Unternehmen entwickelt.

Eine schwere Tuberkuloseerkrankung überwindet er nach 1871 nur mühsam. 1875 übernimmt er den Vorsitz des Berliner Asylvereins für Obdachlose. Der Ort des Asyls ist als "Wiesenburg" (weil in der Weddinger Wiesenstraße gelegen) für ältere Berliner noch heute ein Begriff. 1879 initiiert er, drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Sozialistengesetzes, die Gründung der Zeitschrift "Sozialdemokrat" in Zürich und leitet deren illegalen Vertrieb. 1883 gibt er seinen Widerstand gegen die Übernahme politischer Ämter auf und wird im gleichen Jahr in Berlin zum Stadtverordneten und ein Jahr später auch zum Reichstagsabgeordneten gewählt. Beiden Gremien gehört er bis zu seinem Tod im Jahre 1911 an; in beiden amtiert er als Vorsitzender der SPD-Fraktion. 1886 wird er auf Grund des Sozialistengesetzes aus Berlin ausgewiesen, weil er in einer Reichstagsrede einen Polizeiagenten entlarvt hatte, der organisierte Arbeiter zu Terroranschlägen verleiten sollte.

In anderen Reichstagsreden warnte er schon früh vor kolonialen Ambitionen. Im Herbst 1900 klagte er die militärische Aggression der europäischen Mächte gegenüber China an. Auch sonst nahm er dort ebenso wie im Rathaus häufig und nachdrücklich das Wort. Seinen Reichstagswahlkreis Berlin IV hat er seit 1884 immer wieder in unmittelbarer Wahl gewonnen; meist mit großen Mehrheiten.

Dieser Wahlkreis umfasste damals den westlichen Teil des heutigen Friedrichshain und den östlichen Teil des heutigen Kreuzberg, beide Bezirke - der eine in Ost-Berlin, der andere in West-Berlin - bilden heute den gemeinsamen Bezirk "Friedrichshain-Kreuzberg". Wenn man so will, war das eine gewisse Vorwegnahme des Zusammenwachsens von Ost und West, um das sich nicht zuletzt der Paul-Singer-Verein bemüht - ich habe ihn bereits vorhin erwähnt.

Nach Erlöschen des Sozialistengesetzes wurde er 1890 zum Parteivorsitzenden gewählt. Auch das blieb er - seit 1892 gleichberechtigt neben August Bebel - bis zu seinem Tode. In dieser Zeit leitete er sämtliche Parteitage. Auf einem dieser Parteitage sprach er sich gegen die Vorschläge Eduard Bernsteins aus, Reformen auch innerhalb des herrschenden Systems zu betreiben, widersetzte sich aber Forderungen nach dessen Parteiausschluss.

Seit 1900 ist er auch Mitglied des Büros der Sozialistischen Internationale. In all seinen Ämtern und Funktionen bewährte sich seine Durchsetzungs- und Integrationsfähigkeit, sein Verhandlungsgeschick und seine finanzielle Unabhängigkeit. Auch verband er das Festhalten an dem streng oppositionellen Kurs der Partei mit taktischer Beweglichkeit und strebte mitunter sogar eine begrenzte Kooperation mit anderen Parteien an. Als Stadtverordneter verschaffte er sich mehr und mehr auch den Respekt der anderen Fraktionen.

Sein Wirken bis in die Gegenwart

Am 31. Januar 1911 starb er im Alter von 67 Jahren. Bei seiner Beisetzung im Zentralfriedhof Lichtenberg in Berlin-Friedrichsfelde gaben ihm mehrere Hunderttausende gelegentlich ist sogar von einer Million Teilnehmern die Rede - das letzte Geleit. In vielerlei Hinsicht war Paul Singer außergewöhnlich, ja in der Partei ohne Beispiel.

Er war bürgerlicher Herkunft und ein erfolgreicher Unternehmer. Er war einer der ersten führenden Männer der Partei, die sich in der Kommunalpolitik engagierten. Er engagierte sich ebenso im außerparlamentarischen Bereich, blieb gerade den Schwächeren stets nahe und half ihnen auch finanziell, wo immer er konnte. Sehr bewusst hat er sich auch auf die Seite der sozialistischen Frauenbewegung gestellt. Dabei ging es ihm nicht nur um das "Frauenstudium, sondern um die gleichen Rechte für alle Frauen in allen Bereichen der Männerwelt und insbesondere um das gleiche Wahlrecht auch für Frauen".

Insgesamt predigte er eben nicht nur mit Worten, sondern mit seinem Tun und Handeln, ja mit der Art und Weise, wie er sein Leben führte. Erstaunlicherweise in der Frankfurter Zeitung - also der Vorläuferin der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung - wurde er schon 1886 so gewürdigt: "Singers gemeinnützige und industrielle Tätigkeit ließ in bürgerlichen Kreisen seine Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie in den Hintergrund treten, Männer aller Parteien schätzten in ihm den ehrenfesten Bürger, den uneigennützigen selbstlosen Mann, den unermüdlichen Förderer aller humanen Bestrebungen, den fried- und ordnungsliebenden Kaufmann ..........

Fleißig von früh bis spät kannte er keine andere Erholung, als dem Gemeinwesen, dem er angehörte, als Kaufmann und Bürger dienstbar zu sein." Noch etwas kam hinzu: Singer war Jude und gerade deshalb auch im Jahre 1883 Zielscheibe übelster antisemitischer Anwürfe. Die Berliner SPD ist diesen Angriffen offensiv begegnet, indem sie Paul Singer eben deshalb als Kandidat für die Stadtverordnetenversammlung aufstellte. Und er blieb in all seinen Funktionen und auch an der Spitze der Partei Jude. Das bedeutete für die Abwehr des Antisemitismus in seiner Zeit, wie ihn etwa der Hofprediger Stöcker propagierte, und für die Emanzipation der Juden in der damaligen Gesellschaft mehr als alle politischen Diskussionen und Schulungen. Es unterstreicht auch, wie sehr der Kampf gegen den Antisemitismus seit jeher zum Kernbestand sozialdemokratischer Politik gehört.

Aus all dem, was ich da soeben über Paul Singer vorgetragen habe, können - nein müssen wir auch heute noch konkrete Lehren ziehen. Vielleicht weniger aus den aktuellen Inhalten, die er vertrat. Dafür haben sich die Verhältnisse zu sehr geändert. Aber aus seinen Zielsetzungen und daraus, wie er sich tagtäglich in den Dienst unserer Gemeinschaft stellte. Nicht laut und provokativ, aber wirksam und so überzeugend, dass ihm die Menschen vertrauten. Das Haus, das nun seinen Namen tragen soll, hat eine nicht ganz alltägliche Geschichte.

Noch unbebaut gehörte das Grundstück als Garten zu einer 1805 gegründeten Erziehungsanstalt, zu deren Lehrern zunächst bedeutende Reformpädagogen zählten. Als Otto von Bismarck von 1822 bis 1827 die Schule besuchte, war jedoch an die Stelle humanen Bildungsgutes bereits Drill und Deutschtümelei getreten. Bismarck hätte sich wohl nicht träumen lassen, dass das Haus, das 1878 auf diesem Grundstück errichtet wurde, dem in den folgenden Jahrzehnten ein ähnliches Schicksal widerfuhr wie den meisten anderen Gebäuden in diesem Berliner Bezirk und das schließlich 1898 von der Konzentration GmbH erworben worden ist, eines Tages ausgerechnet den Namen eines seiner striktesten politischen Gegner tragen würde. Und Singer selbst sicher auch nicht. Wenn man so will, ist das eine späte Genugtuung eben dieses Sozialdemokraten. Die Unternehmen, die in diesem Hause ansässig sind, haben übrigens alle im Wirken Paul Singers einen eigenen Anknüpfungspunkt.

Der Vorwärts-Verlag und die beiden Buchverlage ohnehin, weil Singer selber den Vorwärts unterstützte und dort häufig Artikel veröffentlichte, ab 1896 nomineller Eigentümer der Buchhandlung Vorwärts, seit 1897 Mitinhaber des J.H.W. Dietz Verlages, und ab 1902 Mitgesellschafter der "Vorwärts.Buchdruckerei und Verlagsanstalt Paul Singer und Co" war. Die SGK kann sich auf den Kommunalpolitiker Singer berufen. Und die Office Consult auf den Kaufmann, der in der Buchhaltung sehr erfahren war. Beim Reiseservice fehlt es auf den erste Blick an einer unmittelbaren Berührung. Aber gereist ist Singer auch. Zumindest zu den jährlichen Parteitagen, die ja an wechselnden Orten stattfanden, und zu den Sitzungen der Internationale. Privat hat er sich mehrmals im Jahr an der See oder im Schwarzwald erholt.

Wie dem auch sei - mit der Benennung dieses Hauses nach ihm ist Paul Singer in die Gegenwart zurückgekehrt. Örtlich betrachtet ist er damit Willy Brandt an die Seite getreten. Allen, die geholfen haben, dass dies zustande kam, danke ich dafür sehr. Stellvertretend nenne ich in diesem Zusammenhang Inge Wettig-Danielmeier und Barbara Hendricks. Was Paul Singer selbst angeht, kann ich zum Schluss nur wiederholen, was ich schon vor über zwanzig Jahren gesagt habe, als ich 1988 - also noch vor der Wende - an seinem Grab im Ostteil der Stadt anlässlich der einhundertfünfundzwanzigsten Wiederkehr des Gründungstages unserer Partei einen Kranz niederlegte. Nämlich: "Er hat der Sache des demokratischen Sozialismus mit voller Hingabe gedient.

Ihm ist es nicht zuletzt zu verdanken, dass aus rechtlosen Proletariern gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger wurden. Er hat zu seiner Zeit die Fackel der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität entzündet und weiter getragen. Die Fackel, deren Flamme am Brennen zu halten jetzt uns aufgegeben ist!" In diesem Sinne ......................

Autor*in
Hans-Jochen Vogel
Hans-Jochen Vogel

1926 bis 2020, war von 1987 bis 1991 Parteivorsitzender der SPD, von 1972 bis 1974 unter Bundeskanzler Willy Brandt Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und 1974 bis 1981 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt Justizminister.

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