Paul Singer: Ein fast vergessener Held der Sozialdemokratie
Paul Singer war 27 Jahre lang Berliner Stadtverordneter, 26 Jahre gehörte er dem Reichstag an; immer wieder wurde er direkt gewählt. 20 Jahre lang war er Vorsitzender der SPD; neben, zunächst, Alwin Gerisch und dann August Bebel. Von der Berliner „Arbeiterbevölkerung“ wurde er, so wusste es die „Neue Zürcher Zeitung“ schon 1883 zu berichten, „fast vergöttert“. Wie konnte so jemand nahezu in Vergessenheit geraten?
Verleumdeter Sozialdemokrat
„Vielleicht weil er ein Mann der Tat war und kein Theoretiker“, vermutet Holger Hübner, der Vorsitzende eines Vereins, der den Sozialistenfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde in Ehren hält. Hier liegt Singer bestattet, neben vielen anderen großen Gestalten der frühen Sozialdemokratie. Und neben vielen Funktionären der SED. Nach der Teilung Deutschlands und Berlins fand sich der einstige Zentralfriedhof der Sozialdemokratie im sowjetischen Sektor wieder. Die SED nutzte ihn nach der Zwangsvereinigung der Ost-SPD mit der KPD zur Darstellung ihrer Version der Geschichte. Mit Singer konnten die SED-Ideologen wenig anfangen, hatte der doch Sätze hinterlassen wie diesen: „Was nutzt dem Arbeiter das Versprechen der größten politischen Freiheiten, wenn er dabei hungern muss?“
Oder diesen: Man solle nicht fragen, „Wer ist der Mann, sondern wie ist der Mann“? Das passte weder Junkern noch Klassenkämpfern, das irritierte jeden, der Menschen gern nach Herkunft, Glauben oder Auffassung sortierte. Schon seine konservativen und völkischen Zeitgenossen bezeichneten Singer gern als „Juden und Millionär“. Das war zweifach negativ gemeint. Barbara Hendricks weiß: „Paul Singer war einer der meistverleumdeten Sozialdemokraten“.
Aufbau des Vorwärts-Verlags finanziert
Reich geworden war Singer dank einer Damenmantelfabrik, die er mit seinem Bruder aufgebaut hatte. Er nutzte seinen Reichtum, um der Sozialdemokratie über die dunkle Zeit der Sozialistengesetze zu helfen, als die Partei verboten war. Er finanzierte nach dem Ende des Parteiverbots den Aufbau des „Vorwärts“-Verlages. Er setzte sich für kostenlose Schulspeisungen ein – was, wie Berlins früherer Regierender Bürgermeister Walter Momper an Singers Grab bemerkte, leider heute noch aktuell sei.
Und er engagierte sich höchstpersönlich und mit eigenem Geld im Kampf gegen die gewaltige Wohnungsnot in Berlin. Hendricks in ihrer Rede am Grab zu Singers 100. Todestag: „Paul Singer hat das gelebt, was wir heute Empathie nennen.“ Es lohne sich, gerade jetzt die Erinnerung an ihn wiederzubeleben, da viele glaubten, „wenn jeder an sich denkt, sei an alle gedacht“.
Singers Beerdigung wurde zum Trauermarsch
Theodor Wolff bescheinigte Paul Singer in einem Nachruf (im Berliner Tageblatt) neben Tatkraft und unermüdlichem Fleiß einen „behaglichen Humor“ und eine „gemütliche Ironie“. Wie gut, dass die Sozialdemokratie dabei ist, ihn wiederzuentdecken. Seit 2008 heißt das Verlagsgebäude des vorwärts „Paul-Singer-Haus“. Die Rede zum Anlass hielt damals Hans-Jochen Vogel.
Am Tag nach der Beisetzung Singers, am 6. Februar 1910, ist der „Vorwärts“, der damals eine Tageszeitung war, nicht erschienen. Holger Hübner kann sich das nur damit erklären, dass alle Beschäftigen des Verlages und alle Redakteure am Sonntag auf der Trauerfeier waren. Die Berliner Straßen waren an diesem Tag von Mitte über Kreuzberg bis Friedrichsfelde hoffnungslos verstopft. Neutrale Beobachter schätzten, es seien eine Million Menschen auf den Beinen gewesen.
Mit Paul Singer starb eine der bedeutendsten Führungspersönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie im Kaiserreich. Seine Beerdigung wurde zum größten Trauermarsch, den Berlin je gesehen hatte – ein Indiz dafür, wie sehr Singers Wirken die Menschen beeindruckt hatte.
Dies ist eine aktualisierte Version eines Artikels, der anlässlich des 100. Todestags von Paul Singer auf vorwärts.de erschienen ist.