65 Jahre Godesberger Programm: So wurde die SPD zur Volkspartei
Am 15. November 1959 beschließt der SPD-Parteitag das Godesberger Programm. Es ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Regierungsverantwortung im Bund. Doch nicht jede*r ist mit dem neuen Kurs einverstanden.
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Außerordentlicher Parteitag der SPD in Bad Godesberg im November 1959: drei Tage lang um jedes Wort gerungen
In der Stadthalle Bad Godesberg drängen sich 340 Delegierte, zahlreiche Gewerkschafter*innen, Beobachter*innen, Gäste und 300 Journalist*innen. An der Rückseite des festlich geschmückten Saals steht der Slogan „Geh mit der Zeit, geh mit der SPD“. Über der Bühne mit dem SPD-Vorstand prangt das SPD-Logo mit Schwarz-Rot-Gold. Links steht das Redepult, daneben die rote Traditionsfahne der SPD: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“
Angenommen bei 16 Gegenstimmen
Es ist der 15. November 1959. Heinz Kühn, Sitzungsleiter des außerordentlichen Parteitags, lässt über das neue SPD-Grundsatzprogramm abstimmen. Er blickt auf ein Meer erhobener Abstimmungskarten. 324 Ja-Stimmen. Gegenprobe. Kühn verkündet unter lebhaftem Beifall: „Das Grundsatzprogramm ist gegen 16 Stimmen angenommen.“
Das Godesberger Programm ersetzt das marxistisch geprägte Heidelberger Programm von 1925. Die SPD verabschiedet sich von revolutionären Forderungen und ideologischem Ballast. Sie bekennt sich zur Sozialen Marktwirtschaft, zum Privateigentum der Produktionsmittel, zur pluralistischen Gesellschaftsordnung und zur Rolle der Kirchen. Sie akzeptiert die Verteidigung der freiheitlichdemokratischen Grundordnung durch die Bundeswehr und die NATO-Mitgliedschaft. Damit wandelt sich die SPD von einer klassenkämpferischen Arbeiterpartei zu einer modernen linken Volkspartei, die auch die Mittelschicht anspricht.
Auslöser ist eine Kette von Wahlniederlagen
Blick zurück: Bei den ersten Wahlen der jungen Bundesrepublik hofft die SPD, die Regierung zu stellen. Schließlich hatten bürgerliche Kräfte Hitler den Weg zur Macht geebnet. Dennoch kommt die SPD nur auf 29,2 Prozent der Stimmen. Die CDU/CSU unter Adenauer siegt mit 31,0 Prozent. 1957 erreicht die Union mit 50,2 Prozent die absolute Mehrheit – ein Desaster für die Sozialdemokratie, die nur auf 31,8 Prozent der Stimmen kommt.
Politiker wie Fritz Erler, Willy Brandt, Herbert Wehner und Karl Schiller drängen auf eine Reform der Partei. Auch Parteichef Erich Ollenhauer erkennt, dass sich die Partei im Land des Wirtschaftswunders an die gesellschaftliche Realität anpassen muss. Die Abkehr von Marx und Engels sowie die klare Abgrenzung zum Kommunismus und zum Ostblock sind zentrale Punkte.
Bereits in den frühen 1950er Jahren wird intern über diese Veränderungen diskutiert. Seit 1954 arbeitet eine 34-köpfige Programmkommission unter Willi Eichler an einem neuen Entwurf, der 1958 in Stuttgart erstmals vorgestellt wird. Nach intensiven innerparteilichen Diskussionen und Kürzungen durch eine Redaktionskommission unter Fritz Sänger liegt das finale Programm vor.
16 Delegierte geben ihr Parteibuch zurück
In Bad Godesberg wird drei Tage lang um jedes Wort gerungen. Ollenhauer ruft die Delegierten zur Unterstützung auf: „Dieses Programm ist kein Programm der Resignation des demokratischen Sozialismus vor den Gegenkräften oder vor den Kräften der technischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Entwicklung. Dieses Programm ist ein Programm der Offensive für Freiheit und Menschlichkeit für alle Menschen in diesem Lande.“
Alt-Marxist Wehner überzeugt viele Linke mit seiner emotionalen Rede: „Ich gehöre zu den Gebrannten. Ich weiß um die bittere Erfahrung aus der Zeit der Weimarer Republik und habe unter den Schlägen der Diktatur vieles gelernt und habe dazu heute vieles nachzuzahlen.“ Eine harte Nuss für Parteilinke und Pazifisten, die drei Tage lang erbittert für ihre Vorstellungen kämpfen. Nach der Niederlage in der Abstimmung geben 16 Delegierte ihr Parteibuch zurück.
Doch die Geschichte gibt der Mehrheit recht. Die SPD verbessert stetig ihre Wahlergebnisse. 1966 gelingt der Sprung in die Regierung. 1972 erreicht die SPD mit Willy Brandt an der Spitze erstmals mehr Stimmen als die Union. Das gelingt ihr danach noch drei Mal: 1998 und 2002 mit Gerhard Schröder, 2021 mit Olaf Scholz.