Geschichte

Warum Marx so häufig falsch verstanden wird

Bis heute kommt keine Debatte über den Kapitalismus ohne die Analyse von Karl Marx aus. Dabei wurde und wird sein Werk höchst unterschiedlich interpretiert. Oft leider falsch.
von Klaus-Jürgen Scherer · 2. Mai 2018
Karl-Marx-Statue in Chemnitz (Detailaufnahme): Nicht nur die Staatsideologie des Kommunismus berief sich in ideologischer Verdrehung auf ihn.
Karl-Marx-Statue in Chemnitz (Detailaufnahme): Nicht nur die Staatsideologie des Kommunismus berief sich in ideologischer Verdrehung auf ihn.

Endlich ist die Zeit reif, sich offen und kritisch mit dem am 5. Mai vor 200 Jahren in Trier geborenen Karl Marx auseinanderzusetzen – ihn nicht wahlweise als kommunistischen Schurken, sozialistischen Säulenheiligen oder postmodernen Kulturevent misszuverstehen. Marx, einer der größten Denker seiner Zeit, hat das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise enthüllt und der Arbeiterbewegung ­Orientierung und Zukunftshoffnung gegeben. Er starb am 14. März 1883 in London und seither kommt keine Debatte über Zähmung oder Überwindung des Kapitalismus an ihm vorbei.

Ideologische Verdrehung durch den Kommunismus

Nicht nur die Staatsideologie des Kommunismus berief sich in ideologischer Verdrehung auf ihn, gerade die deutsche Sozialdemokratie verstand sich seit ihrem Verbot unter dem Sozia­listengesetz (1878-1890) bis zur Verabschiedung ihres Godesberger Programms (1959) als eine vor allem von Marx’ Lehre inspirierte Partei – wie unterschiedlich auch immer ihre Lesarten des „Marxismus“ waren, etwa bei Karl Kautsky (Vorbereitung bis die Revolution heranreift), Rosa Luxemburg (revolutionär-aktionistisch) oder Eduard Bernstein (reformsozialistisch). Für die traditionelle SPD typisch war dabei, dass es ihr nie ganz gelang, die Kluft zwischen der marxistischen Revolutionshoffnung und der schrittweisen Überwindung des Kapitalismus durch soziale und wirtschaftliche Reformen zu überbrücken.

Wie alle bedeutenden intellektuellen Werke gewann auch das von Marx sein besonderes Format aus der Vielfalt seiner Deutungsmöglichkeiten von Anfang an und im Wandel der Zeiten. Schon der Meister selbst reagierte auf „marxistische“ Texte seiner beiden französischen Schwiegersöhne, Paul Lafargue und Charles Longuet, in den 1870er Jahren mit dem entschiedenen Verdikt: Dann bin ich kein Marxist.

Vierzig bewegte Jahre im Leben von Marx

In Marx persönlichem politischen Leben, das auf sein theoretisches Schaffen natürlich nicht ohne Einfluss blieb, finden sich: die Teilnahme an der deutschen Revolution als politischer Journalist, das Exil in Frankreich, Belgien und England. Er war Berater und leitender Funktionär in den frühesten internationalen Arbeiterorganisationen und immer wieder Protagonist in heftigen intellektuellen Scharmützeln mit wechselnden Gegnern innerhalb und außerhalb der gerade entstehenden internationalen Arbeiterbewegung. Und bei fast alledem war der Privatgelehrte, Fabrikant und Sozialist Friedrich Engels immer an seiner Seite – als Freund, Berater, Koautor und schließlich als maßgeblicher Interpret für die Nachwelt.

Marx schrieb seine wichtigen Texte zwischen 1843 als Chefredakteur der liberalen Rheinischen Zeitung in Köln und 1883 im Londoner Exil – vierzig bewegte Jahre lang, in einer Zeit voller tiefer Umbrüche. In diesen Jahrzehnten ereigneten sich unter anderem die europäische und die deutsche Revolution von 1848, die folgenreichen Bürgerkriege in Frankreich 1871 und in den USA 1861/65, die volle Entfaltung des Kapitalismus in Großbritannien und nachhinkend in Deutschland mitsamt den zugehörigen Wirtschaftskrisen, die Entstehung einer modernen Arbeiterklasse und der europäischen Arbeiterbewegung mit rasch wachsenden Gewerkschaften und sozia­listischen Arbeiterparteien sowie erste Erfolge bei der politischen Zügelung des wilden Kapitalismus durch Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Einzug der Arbeiterparteien in die Parlamente.

Zur politischen Ökonomie des Kapitalismus

In diesen verschiedenen Kontexten erarbeitete Marx ganz unterschiedliche Textgattungen: gründliche Forschungsarbeiten zur politischen Ökonomie; Streitschriften gegen sozialistische Konkurrenten (Das Elend der Philosophie gegen Proudhon 1847); kleine politische Schriften zu Ereignissen der Zeit wie die Pariser Commune 1871 oder zum Kampf um den Achtstunden-Arbeitstag; politische Programme (für die Internationale Arbeiterassoziation), oder programmatische Kommentare wie die Kritik des Gothaer Programms 1875.

All diese vielgestaltigen Anlässe und Zwecke hinterließenen ihre besonderen Spuren in den Texten. Systematisch und kontinuierlich hat Marx ausschließlich – über vier Jahrzehnte hinweg – zur politischen Ökonomie des Kapitalismus geforscht und sein bedeutendstes Buch veröffentlicht: Das Kapital (Band 1, 1867) – neben dem mit Friedrich Engels verfassten Kommunistischen ­Manifest von 1848 die bis heute umkämpfte ­Ikone des Marxismus.

Die ewige Frage: Reform oder Revolution?

Seinen dauerhaften Grundimpuls hat Marx schon 1843 formuliert: Es ist der humanistische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Er gab allen seinen Texten Sinn und Richtung.

Marx hat viele seiner Grundbegriffe, wie Klasse, Staat, sozialistische Produktionsweise, freie Assoziation der Produzenten oder Revolution, die Brücken zwischen der Krisenanalyse des Kapitalismus und der Zukunftsgesellschaft bilden könnten – in wechselnden politischen Kontexten unterschiedlich akzentuiert. Das führte zum Widerspruch zwischen zwei Wegen zum Sozialismus in seinem Lehrgebäude: der eine war der Reformismus einer schrittweisen Annäherung an die neue Gesellschaft, der andere der mit ungeklärten Vorstellungen über Sozialisierung und Planwirtschaft verbundene „revolutionäre Sprung“ ins Ungewisse, August Bebels „großer Kladderadatsch“, nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus.

Lenin missdeutet Marx bewusst

Dabei setzte Marx selbst, insbesondere wenn es um die Praxis der Organisationen der Arbeiterbewegung ging, auf die Möglichkeit, in immer mehr Bereichen die „politische Ökonomie der Arbeiterklasse“ gegen das blinde Spiel der „Logik des Kapitalismus“ zur Geltung zu bringen. Dazu gehörten die gesetzliche Begrenzung des Arbeitstages, die Arbeiterschutzgesetzgebung, die gesetzliche Regelung der Bildungspflicht für Arbeiterkinder und der Ausbau des Genossenschaftswesens. Sie alle repräsentieren Verwirklichungsformen des sozialistischen Prinzips der Ein- und Vorsicht für die Interessen der Arbeiter als Menschen anstelle des kapitalistischen Profitprinzips.

Den Gegensatz dazu bildeten die Anhänger Lenins. Allerdings konnten auch sie Anhaltspunkte für ihre Lesart in den Texten von Marx und Engels finden, aber sie gaben diesen eine Deutung, die dem ganzen Werk und seiner Zielsetzung zuwiderlief. Die demokratische Lesart von Marx, wie sie die Sozialdemokratie vertrat, hat in den Schriften und der Praxis von Marx und Engels ein solideres Fundament. Friedrich Engels bestätigte diese in seinem Kommentar zum Erfurter Grundsatzprogramm der Partei von 1891 und in vielen direkten Gesprächen mit ihren führenden Vertretern.

Das Erbe der Sozialdemokratie

„Revolutionär“ im Verständnis der Sozial­demokraten bedeutet nicht Umsturz, Gewalt und Barrikadenaufstand, es sei denn zur Verteidigung der Demokratie. Denn die Demokratie bot ja die Möglichkeit der tiefgreifenden („revolutionären“) Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Prinzip einer neuen Logik durch dafür geeignete Reformschritte. Auf dem Boden der Demokratie wird die kapitalistische Logik allmählich eingeschränkt und durch die soziale Logik ersetzt. Friedrich Engels fügte diesen reform-sozialistischen Umrissen später hinzu: Die bestgeeignete Staatsform für die Ausübung der politischen Macht und die sozialistische Umgestaltung durch die Arbeiterklasse ist die demokratische Republik. Auf diese Lesart der marxistischen Strategie konnten sich die Organisationen und Akteure des demokratischen Sozialismus zu allen Zeiten stützen. Sie wurde zum Ausgangspunkt der theoretischen und programmatischen Entwicklung der Sozialdemokratie hin zu einer von den Prinzipien des demokratischen Sozialismus – gleiche Freiheit in Solidarität – geleiteten selbstbewussten Reformpartei.

Seit Godesberg ist die SPD keine marxistische Partei mehr, doch „marxistische Gesellschaftsanalyse“, wie es im Hamburger Grundsatzprogramm (2007) heißt, hat im Begründungspluralismus der linken Volkspartei ihren Platz. Der Marxismus als erlösende Weltanschauung, als proletarische Revolutionslehre und Staatssozialismus ist tot, jedoch bleibt die Marxsche Erkenntnis, dass die Destruktionskräfte des reinen Kapitalismus umso verheerender sind, desto reiner die Kapitallogik herrscht, ein Leitgedanke der sozialdemokratischen Politik. Denn aller Flexibilität und grundlegend gewandelten Zeiten zum Trotz verweisen neue Ungleichheiten und Konflikte, globale Ausbeutung und Umweltzerstörung weiterhin auch auf das Zerstörungspotenzial des Kapitalismus.

Autor*in
Klaus-Jürgen Scherer

ist Redakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte.

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