Geschichte

16. Mai 1974: Warum Helmut Schmidt als Kanzler einen Kurswechsel vollzog

Nach dem Rücktritt von Willy Brandt im Zuge der Guillaume-Affäre wird Helmut Schmidt am 16. Mai 1974 als Bundeskanzler vereidigt. Schon in seiner Regierungserklärung einen Tag später wird klar: Schmidt verfolgt einen  anderen Kurs als sein Vorgänger. Das liegt auch an ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten.

von Meik Woyke · 16. Mai 2024
Am Ziel: Am 16. Mai 1974 wird Helmut Schmidt von Bundestagspräsidentin Annemarie Renger zum zweiten sozialdemokratischen Bundeskanzler vereidigt.

Am Ziel: Am 16. Mai 1974 wird Helmut Schmidt von Bundestagspräsidentin Annemarie Renger zum zweiten sozialdemokratischen Bundeskanzler vereidigt.

Um 11.14 Uhr am 16. Mai 1974 stand das Ergebnis fest: Helmut Schmidt war von den Abgeordneten des Deutschen Bundestags mit 267 Stimmen bei 225 Gegenstimmen zum fünften deutschen Bundeskanzler gewählt worden. Der Rücktritt von Willy Brandt von diesem Amt lag zehn Tage zurück, und Schmidt war am Ziel seiner Karriere angekommen.

In den Anfangsjahren der sozial-liberalen Koalition bis 1969 hatte es so ausgesehen, als würde Schmidt das Kanzleramt verschlossen bleiben, zumal er nur um fünf Lebensjahre jünger als sein innerparteilicher Partner und Rivale war. Zwar beanspruchte Schmidt die Kanzlerschaft in dieser Zeit niemals offen für sich. Kategorisch mit Brandt zu brechen und einen die SPD schädigenden Machtkampf zu entfachen, widersprach seiner Loyalität und lag ihm fern. 

Mit wachsender Verärgerung über die nach seinem Dafürhalten zu lasche Regierungsführung des Bundeskanzlers ließ Schmidt jedoch in ihm geneigten Parteikreisen wie gegenüber interessierten Medienvertretern gelegentlich aufscheinen, dass er sich für besser als Brandt geeignet hielt, das Amt des Bundeskanzlers auszufüllen.

Brandt und Schmidt: Partner und Rivalen

Erst die Guillaume-Affäre, die kaum mehr als der äußere Anlass für Brandts Rücktrittsentscheidung war, eröffnete Schmidt unerwartete Karriereperspektiven. Die beiden prominenten Sozialdemokraten hätten unterschiedlicher kaum sein können: Brandt, der „andere Deutsche“, der 1933 von den Nationalsozialisten ins skandinavische Exil getrieben worden war. Und Schmidt, der als Oberleutnant der Deutschen Wehrmacht bis 1945 an der Front gekämpft hatte. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren sie einerseits lange enge Weggefährten bei ihrer Kritik an der Adenauer-Republik und ihrem Eintreten für gesellschaftliche Reformen. Auch der Wille, die SPD mit einer Organisationsreform und dem Godesberger Programm (1958/59) zu modernisieren, verband sie miteinander.

Andererseits traten zugleich immer wieder ihr gegensätzliches Naturell und ihre verschiedenen politischen Temperamente zutage, was sich zudem auf ihr Politikverständnis und ihren jeweils für richtig erachteten Führungsstil auswirkte. Ihre Differenzen und Kontroversen über die eigene Partei und deren Regierungspolitik vornehmlich in den 1970er-Jahren, über die Nachrüstungsfrage oder den Umgang mit der Ökologie- und Friedensbewegung war ein prägendes Kennzeichen ihrer Beziehung.

Nüchterner Realismus: Schmidts erste Regierungserklärung

Am 17. Mai 1974 stellte Helmut Schmidt seine Regierungserklärung unter das Motto „Kontinuität und Konzentration“ und kündigte an, die Regierungspolitik gemeinsam mit der FDP als Koalitionspartnerin fortsetzen zu wollen. Angesichts der globalen ökonomischen Probleme seien jedoch Realismus und Nüchternheit stärker als bisher gefragt. 

Innenpolitisch konzentrierte sich Schmidt besonders auf eine sozial gerechte Wirtschafts- und Steuerpolitik sowie auf die Sicherung der Energieversorgung; außenpolitisch stellte er sich in die Tradition der Neuen Ostpolitik und forderte zur Gesundung der Weltwirtschaft eine international abgestimmte Stabilitätspolitik.

Die Kooperation zwischen dem Bundeskanzler und Willy Brandt funktionierte zunächst reibungslos. Schmidt hielt den SPD-Vorsitzenden auf dem Laufenden, etwa über die Verhandlungen mit der CDU/CSU über die Steuerreform oder die Vorbehalte der FDP gegenüber dem geplanten neuen Mitbestimmungsgesetz. 

Vor schwierigen Auslandsreisen tauschten sie ihre Erfahrungen über die Lage und ihre Gesprächspartner in den Zielländern aus. Bei akuten internationalen Konflikten wie der Besetzung der US-amerikanischen Botschaft in Teheran und der sowjetischen Afghanistan-Invasion (1979) schätzten Brandt und Schmidt sich gegenseitig als Ratgeber. Diese Praxis behielten sie bis zum Ende der sozial-liberalen Koalition bei.

Wachsende Distanz

Zu den kritischen Dauerthemen indessen gehörte Schmidts Klage, als Bundeskanzler nicht hinreichend von seiner Partei unterstützt zu werden. Innerhalb der SPD und mit der FDP gab es vielschichtige Auseinandersetzungen über den richtigen Kurs der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Der sozioökonomische Strukturwandel, das Ende der Reformära, die zunehmende Staatsverschuldung und der „Abschied vom Malocher“ forderten ihren Tribut. Allerdings hielt Brandt es für einen Fehler, von der SPD-Mitgliedschaft nur das Abnicken von Regierungsentscheidungen zu erwarten. Es müsse, wie er Schmidt nahelegte, vielmehr in einer Partei stets Raum für utopisches Potenzial geben.

Bis zum Ende der sozial-liberalen Koalition trübte sich das Verhältnis von Brandt und Schmidt aufgrund ihrer unterschiedlichen Einschätzung des NATO-Doppelbeschlusses und der drohenden Nachrüstung weiter ein. Es kam zu einer wachsenden Distanzierung. 

Als Helmut Schmidt sich eine Woche nach dem Konstruktiven Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 und der Wahl Helmut Kohls (CDU) zum Bundeskanzler mit den führenden Sozialdemokraten Johannes Rau und Hans-Jochen Vogel über die nach dem Auseinanderbrechen der sozial-liberalen Koalition zu ergreifende Strategie austauschte, lastete er dem abwesenden Brandt die in der SPD tobenden Flügelkämpfe an.

Auch die realitätsfernen Auseinandersetzungen und ideologischen Haarspaltereien der Jungsozialist*innen störten ihn gewaltig. Brandt habe die SPD zu einer Holding ohne klares Profil verkommen lassen. Zu den Grünen, die sich als Partei neu formiert und bei der hessischen Landtagswahl am 26. September 1982 erfolgreich abgeschnitten hatten, sah Schmidt im Gegensatz zu Brandt keinerlei politische Verbindungslinien.

Das Parteienspektrum der Bundesrepublik hatte sich erweitert. Bis wieder ein Sozialdemokrat zum Kanzler gewählt wurde, und zwar gestützt auf der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene, sollte es 16 Jahre dauern.

Autor*in
Meik Woyke

ist Vorstandsvorsitzender und Geschäftsführer der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung; bis Juni 2019 leitete er das Referat Public History im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er hat im Verlag J.H.W. Dietz Nachf. den Briefwechsel von Willy Brandt und Helmut Schmidt herausgegeben (2015) und für den Reclam Verlag eine kompakte Schmidt-Biografie (2018) geschrieben.

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1 Kommentar

Gespeichert von Armin Christ (nicht überprüft) am Do., 16.05.2024 - 13:11

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Es war damals schon schwer als kleiner JuSo diesen Helmut Schidt zu ertragen. Für Visionen lies er keinen Raum, seine betonierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, samt Kernkraftwerken, war ein Gründungssignal für die "Grünen". Der Radikalenerlass feierte seine Urständ und Parteiausschlussverfahren waren damals auch fast die Regel. Aber es gab noch jede Menge Sozialdemokraten, mit Klassenkampf- und Kriegserfahrung, in der SPD.
Aber trotz alledem, verglichen mit den heutigen Zuständen in der SPD erscheint das ......... ...... vielleicht verkläre ich die Vergangenheit ???