Rede in Tutzing: Als Egon Bahr die neue Ostpolitik skizzierte
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Im Schloss Tutzing am Ufer des Starnberger Sees trifft sich im Sommer 1963 die politische Elite der Bundesrepublik. Anlass ist eine Tagung des Politischen Clubs der evangelischen Akademie Tutzing. Die Wiedervereinigung Deutschlands ist eines der Hauptthemen. Am Montag, dem 15. Juli 1963, erhält Egon Bahr das Wort und schlägt eine ganz neue Politik vor, die er auf die Formel „Wandel durch Annäherung“ bringt. Seine Idee sorgt für Aufsehen und Kritik. Bahr selbst spricht später von „Kloppe“, die er für seine Rede bekommen habe. Die Formel, die damals das erste Mal erwähnt wird, wird jedoch zum Motto von Willy Brandts erfolgreicher neuer Ostpolitik.
Ein Paukenschlag, der Adenauer zuwiderläuft
Doch zunächst diskutiert die Runde heftig über diese Rede, die sogar Willy Brandts Beitrag „Denk ich an Deutschland …“, der die Grundzüge einer neuen Ostpolitik skizziert, in den Schatten stellt. Bundeskanzler Konrad Adenauer und Kurt Georg Kiesinger finden an den Gedanken von Bahr genauso wenig Gefallen, wie der Bayerische Ministerpräsident Alfons Goppel und seine Parteikollegen Franz Josef Strauß, Friedrich Zimmermann und Richard Jaeger.
Was die versammelten Politiker von Bahr zu hören bekommen, ist ein Paukenschlag, der allen politischen Bestrebungen der Adenauer-Ära zuwiderläuft: Es ist der Vorschlag eines Strategiewechsels in der festgefahrenen, dem Kalten Krieg verhafteten deutschdeutschen Frage. Adenauers Politik steht für den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik gemäß der Hallstein-Doktrin, die eine Anerkennung der DDR als eigenständiger Staat kategorisch ablehnt.
Das Ziel: eine friedliche Koexistenz
Bahr knüpft in seiner Rede ebenso wie bereits Brandt an die „Strategie des Friedens“ von US-Präsident John F. Kennedy an, der seine Entspannungspolitik am 10. Juni 1963 vorstellt und als Ziel eine friedliche Koexistenz der Systeme festlegt. Bahr argumentiert, dass die Konfrontation zwischen Ost und West zu einer Sackgasse geführt habe. Stattdessen schlägt er eine Politik vor, die sich an den politischen Realitäten orientiert, eine Politik des Dialogs und der Zusammenarbeit, um das Vertrauen zwischen den beiden Seiten wiederherzustellen. So könne der Osten sich öffnen und sich in Richtung einer offeneren Gesellschaft mit politischer Liberalisierung verändern.
Zu beachten sei – und da bezieht sich Bahr wieder auf Kennedy –, „dass soviel Handel mit den Ländern des Ostblocks entwickelt werden sollte, wie es möglich ist, ohne unsere Sicherheit zu gefährden“. Letztlich habe es bei dieser neuen Ostpolitik „zunächst, um die Menschen zu gehen und um die Ausschöpfung jedes denkbaren und verantwortbaren Versuchs, ihre Situation zu erleichtern“, so Bahr weiter.
Voraussetzung für den Mauerfall
Doch es dauert noch bis 1969, bis eine sozialliberale Koalition unter Brandt und Walter Scheel die neue Ostpolitik umsetzen kann – unter schweren Protesten aus der Union. Mit der Anerkennung des Status Quo wird die Voraussetzung geschaffen, den Eisernen Vorhang zu lüpfen. Brandt wird für seine Entspannungspolitik sogar mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Letztlich führt die neue Ostpolitik zum Fall der Mauer und zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas – und das alles mit Diplomatie aus einer Position der Stärke mit fester Absicht der friedlichen Koexistenz. Selbst der langsame Zerfall der Sowjetunion und die Reformen Gorbatschows, die vom Westen unterstützt werden, lassen sich als Erfolg der Politik des „Wandels durch Annäherung“ sehen.
Als Nachfolgestaat der Sowjetunion bekannte sich auch Russland immer wieder vertraglich zur europäischen Friedensordnung: zur Anerkennung der Unverletzlichkeit aller Grenzen und zum Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt. Auch dies ein Erfolg der Ostpolitik. Doch die findet ein jähes und brutales Ende mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Deutschland zieht die Konsequenzen mit der von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündeten „Zeitenwende“.
Die Rede im Worlaut können Sie hier nachlesen.