Weltfrauentag: Warum Frauenrechte in der Türkei zunehmend unter Druck sind
In der Türkei geraten Frauenrechte zunehmend unter Druck. Die Politik dominieren ultrakonservative Männer, Gewalt gegen Frauen erlebt neue Höhepunkte. An der gesellschaftlichen Wirklichkeit geht das längst vorbei.
imago | zuma wire
Demonstration zum 8. März in Istanbul: Frauenrechte geraten in der Türkei zunehmend unter Druck.
Die Angst vor dem Frauen scheint groß zu sein. Schon ab Freitagmittag wird ein Großaufgebot von Polizisten das Zentrum von Istanbul abriegeln. Wie jedes Jahr haben Frauenorganisationen im ganzen Land am Weltfrauentag zu Demonstrationen aufgerufen, um für mehr Gleichberechtigung auf die Straße zu gehen. Was in den ersten Jahren der Erdogan-Regierung als buntes Festival der unterschiedlichsten Menschen geduldet wurde, sieht Ankara seit einigen Jahren als große Bedrohung. Denn diese Frauen und Männer erheben große Vorwürfe an das Regime.
Austritt aus der Istanbul-Konvention
Erdogan ließ sein Land vor genau zwei Jahren per Dekret aus der Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt an Frauen austreten - dabei hatte seine Regierung diese Konvention einst selbst stolz unterzeichnet. Zwar existiert weiterhin ein lokales Gesetz zum Schutz von Frauen und Kindern. Doch Menschenrechtsorganisationen berichten, dass viele Frauen seither eingeschüchtert sind. Wenn sie auf der Polizeiwache Schutz vor gewalttätigen Ehemännern oder Exfreunden suchen, würden sie öfter abgewiesen als zuvor, erzählt die Istanbuler Anwältin und Aktivistin Leyla Süren.
Gewalttätige Ehemänner und Exfreunde sehen sich durch den Austritt aus der Konvention ermutigt und glauben nun, sie würden ungestraft davonkommen, klagt Süren. Einen traurigen Rekord stellte die Türkei letzte Woche auf: am 27. Februar wurden acht Frauen im Land von ihren Ehemännern oder Ex-Männern ermordet. Die Opfer waren wie so oft Frauen, die gerade dabei waren sich zu emanzipieren - und damit den Zorn der Männer auf sich zogen.
Gleichberechtigung: Bedrohung für „islamische Familienwerte“
Derweil fordern islamistische Meinungsführer immer lauter die Einführung der Scharia. Die Regierung des eigentlich säkularen Landes pfeift sie nicht mehr zurück. Ganz im Gegenteil, Anfang Februar erklärte Staatspräsident Erdogan: „Feindschaft gegen die Scharia ist Feindschaft gegen die Religion selbst.“ Die Justiz nahm ihn beim Wort. Als drei Wochen spöter die bekannte Frauenrechtsanwältin Feyza Altun auf X (zuvor Twitter) gegen die Scharia polterte, wurde sie prompt festgenommen und Ermittlung gegen sie eingeleitet. Nach Protesten von NGOs ließ man sie am Tag darauf zwar frei, belegte sie aber mit einem Ausreiseverbot.
Eine tatsächliche Einführung der Scharia steht in der Türkei zwar nicht vor der Tür, doch Erdogan ist zu immer mehr Eingeständnissen an die Ultrareligiösen bereit.
Seit den Wahlen letzten Mai ist das Parlament so konservativ besetzt wie noch nie, auch dank des damaligen breiten Oppositionsbündnisses, welches vielen Ultrareligiösen zu Parlamentssitzen verhalf. Die propagieren ein reaktionäres Familienbild, in dem die Frau sich dem Mann unterzuordnen hat. Sie definieren Frauen vor allem durch ihre Rolle als Mutter und verurteilen die Gleichberechtigung der Frau als Bedrohung für die „islamischen Familienwerte“.
Zu wenige Frauen in der Politik
Kleine islamistische Parteien fordern eine Abschaffung von Unterhaltszahlungen an geschiedene Frauen und attackieren das bürgerliche Gesetzbuch. LGBT-Menschen verurteilen sie als pervers, gefährlich und verräterisch - eine Erzählung, der sich auch Ultrakonservative in Ungarn, Polen oder den USA leider gerne bedienen.
So wundert es kaum, dass bei den anstehenden landesweiten Kommunalwahlen am 31. März nur wenig Frauen antreten. Die islamisch-konservativen Regierungspartei AKP stellte nur eine einzig Oberbürgermeisterkandidatin auf, dazu kommen fünf weitere Bürgermeisterkandidatinnen. Selbst die säkular gesinnte Republikanische Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD, hat zwar an die hundert Bürgermeisterkandidatinnen aufgestellt, doch in den Großstädten sowie den leicht zu gewinnenden, liberalen Ortschaften entschied sie sich fast immer für Männer.
Der oppositionelle Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu wirbt zwar damit, in seiner Stadtverwaltung so viele Frauen wie nie angestellt zu haben, ob als Straßenbahnfahrerin, Feuerwehrfrau oder Architektin. Die aussichtsreichsten Kandidaturen in seiner Stadt aber vergab seine Partei wie so oft an Männer. Allein die kurdennahe DEM-Partei (zuvor HDP) hat durch ihr Co-Vorsitzenden-System landesweit über 500 Frauen aufgestellt, aber ihre Gewinnchancen sind außerhalb der Kurdenregion verschwindend gering. Wahlkampf und Politik dominieren Männer - ob auf gigantischen Plakaten oder lautstarken Kundgebungen.
Türkinnen gehen ihren Weg
Dabei sind die Türkinnen selber im Wandel begriffen. Seit Jahren steigt ihr Bildungsgrad und ihr Anteil am Arbeitsmarkt. Im internationalen Vergleich ist der noch immer niedrig: so arbeitet nur Rund ein Drittel der Türkinnen, bei den Männern sind es doppelt so viele. Doch mit Bildungsgrad steigt die Berufstätigkeit von Türkinnen enorm - so sind Hochschulabsolventinnen zu knapp 70 Prozent berufstätig. Der Anteil der Professorinnen liegt in der Türkei mit knapp 34 Prozent sogar höher als in Deutschland - da sind es nur 28 Prozent. Seit Erdogan an der Macht ist, steigt zudem die Scheidungsraten und sinkt die Geburtenrate, liegt nur noch bei 1,62 Kindern pro Frau. Die Propaganda des Präsidenten, jede Frau solle mindestens drei Kinder bekommen, findet in der Realität keinen Widerhall.
So gehen immer mehr Türkinnen beharrlich ihren eigenen Weg – mal still und leise, mal laut und selbstbewusst. Zum Weltfrauentag verkündet die landesweite Organisation Frauenräte: „Wir werden freie Städte, Straßen und Leben errichten!“ Die Polizist*innen stehen schon bereit.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.
Weltfrauentag / Frauenrechte in der Türkei
Danke für diesen interessanten Bericht!
Bitte mehr davon. Das ist nicht nur in Bezug auf die Frauenrechte stärkend, sondern auch generell zur Stärkung der Menschenrechte. Wir brauchen viel mehr weise Frauen und Männer jeden Alters. Jedenfalls August Bebel und Friedrich Engels würden dem zustimmen.