Frauenrechte: „Die Türkei muss zur Istanbul Konvention zurückkehren“
imago images/Martin Müller
Jede dritte Frau weltweit erlebt in ihrem Leben körperliche und/oder sexuelle Gewalt, unabhängig von Alter, sozialer Herkunft oder des Wohnorts. Es ist davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie häusliche Gewalt verschärft hat. Die Vereinten Nationen sprechen sogar von einer Schattenpandemie.
Häusliche Gewalt ist keine Privatsache
Die Türkei war das erste Beitrittsland des 2011 in Istanbul getroffenen Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Als völkerrechtlich bindendes Instrument ist die Istanbul Konvention ein Meilenstein in der Bekämpfung geschlechtsbasierter Gewalt. Mit Ausnahme von Russland und Aserbaidschan haben alle Vertragsstaaten die Konvention gezeichnet. Dass nun ausgerechnet die Türkei während der laufenden Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen aus dem Abkommen austritt, ist ein Skandal! Und es ist ein verheerendes Signal und ein Affront gegen alle Frauen – nicht nur in der Türkei!
In Russland und Aserbaidschan wird häusliche Gewalt als Privatsache angesehen, auf die der Staat keinen Einfluss hat und haben sollte. Auch die Regierungen von Polen und Ungarn, sowie Bulgarien, Rumänien, Tschechien und die Slowakei stellen die Istanbul Konvention und die damit verbundenen Ziele und Maßnahmen in Frage; ebenso wie konservative Parteien, aber auch Vertreter des Islam, der gesamten orthodoxen und Teile der römisch-katholischen Kirche. Die Argumente sind so falsch wie absurd: „Die Konvention führe dazu, dass die Ordnung in der Familie untergraben werde, die Scheidungsrate ansteige und überhaupt die Frau dem Mann den Gehorsam verweigere“. Außerdem sehen insbesondere Islamisten in der Konvention einen Türöffner für die von ihnen verhasste LGBTI-Kultur und das Vordringen westlicher Dekadenz.
Recht auf ein Leben frei von Gewalt
Darum geht es in der Istanbul Konvention aber gar nicht. Es geht um ein Leben frei von Gewalt. Es geht um gleiche Würde und körperliche und seelische Unversehrtheit gerade für Frauen. Es ist die Aufgabe des Staates diese Rechte zu schützen – auch und gerade vor Angriffen innerhalb der Familie. Wer die Istanbul Konvention ablehnt, lehnt fundamentale Menschenrechte ab. Und deshalb muss allen klar sein:
Frauenrechte sind nicht verhandelbar und dürfen nicht zur Disposition gestellt werden. Die Reaktion auf den Austritt der Türkei aber auch auf die Ablehnung der Konvention durch einige EU-Mitgliedsstaaten darf sich nicht auf bloße Kritik reduzieren. Wer Frauenrechte mit Füßen tritt und wer Frauen nicht umfassend vor Gewalt – auch häuslicher Gewalt – schützt, ist kein geeigneter Beitrittskandidat für die EU und bewegt sich als EU-Mitglied nicht auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit.
Nachhaltige Sanktionen gefordert
Die türkische Organisation „Wir werden Frauenmorde stoppen“ zählte im Jahr 2020 über 300 Femizide. Eine Gewaltschutzkonvention in dieser Situation aufzukündigen ist zynisch und falsch. Die Türkei muss wieder zur Konvention zurückkehren, alle EU-Mitgliedsstaaten und die EU selbst müssen die Konvention ratifizieren und vollständig anwenden. Erfolgt dies nicht, müssen nachhaltige Sanktionen ergriffen werden.
Es geht nicht nur um die Istanbul Konvention. Es geht um Frauenrechte generell. Die Pandemie hat die immer noch vorhandenen Defizite bei der Gleichstellung von Frauen und Männern offenbart. Trotzdem sind Frauen nicht oder nur marginal in den Entscheidungsgremien vertreten. Deshalb wird in den nationalen und europäischen Programmen zur Bewältigung der Krise die Chance vertan, Geschlechtergerechtigkeit zum Leitprinzip zu machen. Zurück zum Status vor der Pandemie ist nicht genug. Die tatsächliche Gleichstellung und ein Leben frei von Gewalt müssen endlich verwirklicht werden. Dazu gehört auch die vollständige Anwendung der Istanbul Konvention.
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ist Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrates. Von 2013 bis 2017 war sie Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Ferner war Mitglied im SPD-Parteivorstand sowie ASF Bundesvorsitzende.