Investitionsbedarf in Deutschland: „Wir füllen immer noch die Schlaglöcher von Helmut Kohl"
Gesundheit, Infrastruktur, Schulen: In vielen Bereichen fehlt in Deutschland das Geld. Das liegt auch daran, dass Politikerinnen und Politiker Angst vor Schulden haben, sagt die Ökonomin Philippa Sigl-Glöckner.
Dirk Bleicker/vorwärts
Philippa Sigl-Glöckner ruft die Bundespolitik zu mehr Zukunftsinvestitionen auf.
Das „Dezernat Zukunft“, deren Direktorin Sie sind, hat für Deutschland einen Investitionsbedarf von 782 Milliarden Euro bis 2030 errechnet. Wie kommen Sie auf diese Summe?
782 Milliarden klingen gewaltig, sind aber sogar eher konservativ gerechnet. Für Klimaanpassungen zum Beispiel haben wir knapp 40 Milliarden Euro bis 2030 angesetzt, auch wenn klar ist, dass wir deutlich mehr Geld dafür brauchen werden. Unser Ziel war aber, eine Zahl zu errechnen, die politischer Konsens bei den demokratischen Parteien ist. Also haben wir im Zweifel immer die niedrigstmögliche Zahl angesetzt. Ich denke aber, auch so wird sehr deutlich, dass wir eine riesige Investitionslücke haben, weil wir noch Schlaglöcher von Helmut Kohl füllen und gleichzeitig dieses ganze Land umbauen müssen.
Wohin es führt, wenn nicht ausreichend in Infrastruktur investiert wird, hat vor einigen Wochen der Zusammenbruch der Carolabrücke in Dresden gezeigt. Warum ist Deutschland hier so nachlässig?
Es gibt in der Politik offenbar eine große Sorge, zu viele Schulden zu machen. Hinzu kommt, dass alle Politikerinnen und Politiker lieber Geld für Dinge ausgeben, die schnell sichtbar werden und nicht erst in fünf, zehn oder sogar 15 Jahren. Das hilft einem ja erstmal nicht bei den nächsten Wahlen. Wenn etwa jetzt Geld ausgegeben wird, um eine Bahnstrecke zu bauen, sehen die Wählerinnen und Wähler das Ergebnis erst viel später. Deswegen ist es aus Sicht der Politik durchaus rational, im Zweifel Investitionen zu kürzen. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass immer zuerst Investitionen zusammengestrichen wurden, wenn das Geld knapp wurde.
Welche Rolle spielt die Schuldenbremse dabei, die Bund und Ländern seit 2011 verbindliche Vorgaben zur Reduzierung ihres Haushaltsdefizits macht?
Schon seit der Verabschiedung der europäischen Schuldenregeln in Maastricht im Jahr 1992 hat die Politik große Anreize, blind Finanzkennzahlen zu folgen. Es ist einfach sehr attraktiv für den Finanzminister in einem Satz zu erklären, wieso er gute Finanzpolitik macht – weil die Schuldenquote in Richtung der von Europa vorgegebenen 60 Prozent fällt. Sich der 60 zu entsagen, nur weil das Land dann in zehn Jahren eine tolle Bahn hat, das werden wenige machen, die Wahlen gewinnen wollen.
Fehlt in der Gesellschaft das Verständnis, was Investitionen sind und was bloße Ausgaben?
Ich glaube, die Menschen verstehen schon sehr gut, was Investitionen sind und fordern sie auch ein. Das zeigen Umfragen ja auch. Das Problem liegt bei der Politik, die wenig Anreiz hat zu investieren, solange zufällige Finanzkennzahlen so mächtig sind.
Was bedeutet es für Deutschland, wenn dieser Kurs fortgesetzt wird?
Dann werden wir zunehmend ein Land haben, das nicht mehr funktioniert. Wir merken ja bereits in immer mehr Bereichen, wo es überall versäumt wurde zu investieren. Während der Corona-Pandemie wurden die Schwächen des öffentlichen Gesundheitsdienstes mehr als deutlich. Bei den verschiedenen Überflutungen der vergangenen Monate stieß der Katastrophenschutz an seine Grenzen. Es fehlen Kita-Plätze und die Schulen sind marode. Die Beispiele ließen sich noch lange fortsetzen. Und jedes Mal sind wir wieder überrascht, dass Dinge nicht so funktionieren wie gedacht. Sorge macht mir aber noch etwas anderes.
Was ist das?
Dass Menschen, die einen nicht funktionierenden Staat erleben, das Vertrauen in die Politik verlieren. So wächst schleichend das Misstrauen in den Staat und davon profitieren die Populist*innen von links wie von rechts.
Die Menschen wollen, dass investiert wird, trotzdem spricht sich in Umfragen regelmäßig eine Mehrheit für eine Beibehaltung der Schuldenbremse aus. Wie passt das zusammen?
Ich finde es sehr verständlich, dass Menschen die Schuldenbremse für sinnvoll halten. Der Begriff klingt ja auch erstmal gut. Um zu verstehen, was das Problem ist, muss man sich schon etwas intensiver mit den Details der Schuldenbremse auseinandersetzen. Aber dann sieht man deutlich, dass sie Investitionen immer teurer und komplizierter als nötig machen wird. Das schöne Bild der niedrigen Schulden aufrechtzuerhalten, hat echte realwirtschaftliche Kosten.
Philippa Sigl-Glöckner,
Ökonomin
Leider ist die Politik in Deutschland aber meist weiterhin im Eichhörnchenmodus.
Inwiefern?
Wenn wir etwa jedes Jahr aufs Neue diskutieren, wie viel Geld die Bahn für den Schienenausbau bekommt, dann werden die Unternehmen, die die Schienen ausbauen, nie ihren Maschinenpark aufstocken, weil sie ja nicht wissen, wie viel Nachfrage es im folgenden Jahr geben wird. Das ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht auch sinnvoll, denn diese Maschinen kosten viel Geld. Folge dieser Politik sind dauerhaft knappe Bau-Kapazitäten. Unternehmen können dadurch die Preise bestimmen. Und am Ende wundern sich alle, warum die Kosten durch die Decke gehen, wie wir es gerade beim Wohnungsbau erleben. Der Wunsch zu sparen, macht es für den Staat also im Endeffekt teurer.
Also doch die Schuldenbremse abschaffen?
Dafür gibt es zurzeit keine politische Mehrheit. Aktuell steht aber nicht die Grundgesetzreform der Politik im Weg, sondern ihr eigener Unwille die Schuldenbremse sinnvoll auszulegen. Um ein Beispiel zu nennen: Der Bund darf sich im Rahmen der Schuldenbremse mehr verschulden, wenn die Wirtschaft schlecht läuft. Um sie zu stabilisieren, kann er so für Nachfrage sorgen und damit auch Arbeitsplätze sichern. Wenn die Wirtschaft dagegen gut läuft, soll sich der Staat eher zurücknehmen und sparen, um nicht am Ende eine Inflation zu provozieren. Wie der Bund eine gut oder schlecht laufende Wirtschaft definiert, bleibt ihm überlassen. Das Grundgesetz sagt dazu nichts. Und es gibt noch weitere Ausgestaltungsmöglichkeiten.
Welche sind das?
Neben der „Konjunkturkomponente“, die ich gerade beschrieben habe, sind das die sogenannten finanziellen Transaktionen. Die Idee dahinter ist, dass Schulden, die der Bund aufnimmt, um Vermögenswerte zu erwerben, aus der Schuldenbremse herausgerechnet werden. Ein solcher Vermögenswert wäre ein Kredit, den der Bund der Bahn gibt, um neue Gleise zu finanzieren. Würde die Bundesregierung die Konjunkturkomponente und finanzielle Transaktionen sinnvoll nutzen, käme sie schon recht weit. Leider ist die Politik in Deutschland aber meist weiterhin im Eichhörnchenmodus: Sie will erst dann die Schule bauen, wenn sie das Geld zusammengesammelt hat. Es gibt aber einen Grund, warum Eichhörnchen nie eine große Zivilisation aufgebaut haben.
Allerdings hinterlassen Eichhörnchen ihren Nachkommen auch keine Schulden. Ist es verantwortungsvoll, zwar zu investieren, dafür aber einen hohen Schuldenberg zu hinterlassen?
Ausstehende deutsche Staatsanleihen, die jeder Investor gerne hält und für die Deutschland nur in sehr geringem Umfang Zinsen zahlt, machen mir weniger Sorgen als realwirtschaftliche Schulden, die wir hinterlassen, wenn wir keine Schulen bauen und ganze Generationen versauern lassen. Dann müssen wir uns auch nicht wundern, wenn bei jungen Menschen eine große Verunsicherung herrscht und sie Angst vor der Zukunft haben. Kindern eine schlechte Ausbildung mitzugeben, ist unsere wahre Schuld.
Weiterlesen: "Gutes Geld. Wege zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft" von Philippa Sigl-Glöckner, Quadriga Verlag, 285 Seiten, 24 Euro. ISBN 978-3-86995-144-7
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.