50 Jahre Radikalenbeschluss: Als Willy Brandt irrte
imago/Klaus Rose
Als die Bundesregierung unter Helmut Schmidt 1979 vom Radikalenbeschluss abrückte, hatte die Bonner Republik sieben Jahre der polarisierten Debatte über „Berufsverbote“ und „Radikale im öffentlichen Dienst“ erlebt. Mehr als eine Million sogenannter Regelanfragen hatten Behörden vor Einstellungen in den Staatsdienst an den Verfassungsschutz gestellt, zahllose Bewerber*innen waren zu ihren politischen Überzeugungen befragt und etwa eintausend Personen abgelehnt oder entlassen worden. Diese 1972 begonnene Praxis bedeutete für die SPD einen erheblichen Glaubwürdigkeitsverlust. Zwar hatte Willy Brandt zu Beginn seiner Kanzlerschaft im Herbst 1969 versprochen, „mehr Demokratie wagen“ zu wollen, viele junge Menschen betrachteten den gut zwei Jahre später gefassten Radikalenbeschluss jedoch als das genaue Gegenteil dieses Versprechens.
Ein Beschluss gegen Mitglieder der DKP
Am 28. Januar 1972 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder zusammen mit Bundeskanzler Brandt, Mitglieder „verfassungsfeindlicher“ Organisationen fortan vom öffentlichen Dienst auszuschließen. Formal richtete sich der Beschluss, der dann in unterschiedlicher Weise in Bund und Ländern umgesetzt wurde, gegen Rechts- und Linksradikale, aber gemeint waren in erster Linie Mitglieder der 1968 gegründeten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und anderer kommunistischer Gruppen, die im Zuge der Studierendenbewegung entstanden waren.
Bereits 1970 hatte die SPD per Unvereinbarkeitsbeschluss ihren Mitgliedern die Zusammenarbeit mit der DDR-treuen DKP verboten. Diese Abgrenzung stand in der Kontinuität einer langen Konfliktlinie zwischen Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, etwa die Auseinandersetzungen während der Weimarer Republik oder die politische Verfolgung von SPD-Mitgliedern in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR. Hinzu kam eine Abgrenzung der SPD vom radikaleren Teil der „68er“.
Ein Berufsverbot für Lehrer*innen
Und so waren es nicht nur die Unionsparteien, die Zeitungen des Springer-Verlags oder der konservative Professorenverein „Bund Freiheit der Wissenschaft“, die sich für den Ausschluss von DKP-Mitgliedern aus dem öffentlichen Dienst stark machten, sondern auch sozialdemokratisch-geführte Bundesländer wie Bremen, Nordrhein-Westfalen oder Hamburg, die 1971 erste Maßnahmen gegen einzelne Personen ergriffen. Mit dem Radikalenbeschluss wurde der politische Konflikt mit den Kommunist*innen gleichsam von der Partei auf die Mitglieder gelenkt. Die DKP wurde nicht – wie 1956 die KPD – verboten, aber die berufliche Existenz ihrer Mitglieder stand auf dem Spiel. Das Verbot einer Tätigkeit im öffentlichen Dienst kam insbesondere für die besonders häufig betroffenen Lehrer*innen einem Berufsverbot gleich.
Nach dem Radikalenbeschluss wurden in Bund und Ländern Überprüfungsverfahren etabliert. In den 1970er und 80er Jahren wurde angefragt, angehört und abgelehnt. Wie eine Auswertung der Hamburger Überprüfungspraxis zeigt, liefen die Verfahren schematisch ab – und das Urteil stand faktisch oft schon zu Beginn fest. Ihre Ablehnung konnten Betroffene meist nur durch einen Austritt aus den „verfassungsfeindlichen“ Organisationen abwenden, Bekenntnisse zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung reichten nicht aus.
Rückblickend kritisierte auch der damalige Erste Hamburger Bürgermeister Hans-Ulrich Klose die Anhörungen als „unwürdig“ und stellte fest, es habe keine ernsthafte Einzelfallprüfung stattgefunden. Hans Koschnick, der für den SPD-Parteivorstand die Überprüfungspraxis untersuchte, kam 1978 zu einer ähnlichen Einschätzung: Die Praxis sei „ungerecht, uneinheitlich und uneffektiv“.
Helmut Schmidt hielt den Beschluss für „abwegig“
In der SPD war der Radikalenbeschluss von Beginn an umstritten: Herbert Wehner hatte davor gewarnt, Helmut Schmidt hatte ihn als „abwegig“ bezeichnet und die sozialdemokratisch regierten Bundesländer Hessen und Niedersachsen rückten – trotz ihrer Zustimmung im Januar 1972 – wenige Monate später aus verfassungsrechtlichen Gründen vorübergehend wieder von dem Beschluss ab. Zudem setzten kritische Parteitagsbeschlüsse die sozialdemokratischen Regierungen unter Druck, insbesondere ein Beschluss des Mannheimer Parteitags 1975. Hier forderte die Parteibasis, die SPD-geführten Landesregierungen sollten von der positiven Verfassungstreue der Bewerber*innen ausgehen und die Regelanfrage beim Verfassungsschutz abschaffen.
Die SPD tat sich allerdings schwer mit einer Revision der Praxis: So erklärte Willy Brandt zwar bereits 1976, er habe sich „geirrt“, und im Bundestagswahlkampf 1976 behauptete die Partei, der Radikalenbeschluss sei für sie „gegenstandslos“. In SPD-geführten Ländern wurde aber weiterhin auf Grundlage der Rechtsauslegung des Radikalenbeschlusses überprüft und abgelehnt. Erst als sich die Debatte 1978 immer weiter zuspitzte, plädierten auch führende Sozialdemokraten für eine reale Abkehr vom Radikalenbeschluss. Ein entscheidender Impuls kam dabei aus Hamburg. Hans-Ulrich Klose erklärte: „Lieber stelle ich 20 Kommunisten ein, als 200.000 junge Menschen zu verunsichern.“ Klose setzte sich nicht nur für die Abschaffung der Regelanfrage ein, sondern auch für die Einstellung zuvor abgelehnter Kommunist*innen. Ende 1978 schloss sich die Partei seiner Position an.
Anfang vom Ende in Hamburg
Die Anfang 1979 vollzogene Abkehr vom Radikalenbeschluss in den sozialdemokratisch regierten Ländern und im Bund – in den unionsregierten Ländern wurde die Praxis in den 1980er Jahren noch fortgesetzt – war eine Folge von Protesten im In- und Ausland, kritischen Medienberichten und auch eines Umdenkens in Teilen der Partei. Zudem reagierte die SPD darauf, dass sich zahlreiche linksorientierte junge Menschen von ihr abgewandt hatten, eine wachsende Staatsverdrossenheit artikulierten und sich lieber für grün-alternative Wahllisten entschieden.
Auch innerhalb der SPD traten diese generationellen Konflikte zutage: (Einstige) Juso-Vorsitzende wie Karsten Voigt, Heidemarie Wieczorek-Zeul oder Gerhard Schröder, aber auch viele andere sozialdemokratische „68er“ setzten sich für ein Ende des Radikalenbeschlusses ein. Es war kein Zufall, dass der Hamburger Senat die Liberalisierung und schließlich auch Einstellung von Kommunist*innen in den Staatsdienst unter dem Motto „Mehr Toleranz wagen“ propagierte. Denn die sozialdemokratische Abkehr vom Radikalenbeschluss kann auch als späte Einlösung der von Willy Brandt in Aussicht gestellten Toleranz gegenüber der revoltierenden Jugend der späten 1960er Jahre verstanden werden.
ist Historikerin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg.
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