„Willy wählen“: Wie die SPD überragend die Bundestagswahl 1972 gewann
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Am 19. November 1972 wurde in der Bundesrepublik der siebte deutsche Bundestag gewählt. Die SPD feierte bei dieser ersten vorgezogenen Bundestagswahl mit 45,8 Prozent der Stimmen ihren bislang größten Erfolg, und das in einer aufgeheizten politischen Zeit. 1972 tobte ein politischer Kampf um die Ratifizierung der Ostverträge, gegen Bundeskanzler Willy Brandt scheiterte ein Misstrauensvotum, der Bundestag wurde aufgelöst und es kam zu einem ziemlich schmutzigen Wahlkampf.
Diffamierungskampagne von CDU und CSU
Wie schon in den Jahren seit 1961 initiierten die CDU/CSU-Opposition und die ihr nahestehenden Presseorgane Verleumdungskampagnen gegen Willy Brandt. Neben den immer wiederkehrenden Diffamierungen wegen seiner Emigrationszeit wurde nun auch die Politik des Kanzlers massiver Kritik ausgesetzt. Im Mittelpunkt standen hier die Ostpolitik, Fragen der inneren Sicherheit sowie die wirtschaftliche Lage.
Die CSU brachte ein „Rotbuch: Wer ist Willy Brandt, wer ist Herbert Wehner?“ heraus, welches vor allem auf vermeintliche Kontinuitäten in Brandts Politik abhob. Nach dem Motto „einmal Vaterlandsverräter, immer Vaterlandsverräter“ versuchte man, die Ostpolitik des Bundeskanzlers ins Zwielicht zu rücken. Mit Anzeigen „Wer Brandt wählt, wählt Wehner, wer Wehner wählt, wählt den Kommunismus“ oder „Wer Brandt wählt – wählt Deutschlands Untergang!“, wollte man die SPD mit „Kommunismus“ oder „Bolschewismus“ gleichsetzen und damit als totalitär diffamieren.
Der Höhepunkt von Brandts Popularität
Diesmal war die Resonanz solcher Angriffe allerdings im Vergleich zu vorherigen Wahlkampagnen relativ gering. Denn der Wahlkampf 1972 markierte den Höhepunkt der Popularität und des Personenkults um Willy Brandt. Er war die Symbolfigur für all das, für das die SPD und ihre Politik stehen wollten: Hoffnungsträger, Reformer, Staatsmann. Ein immer wiederkehrendes Foto mit drei unterschiedlichen Slogans: „Kanzler des Vertrauens“, „Deutsche wir können stolz sein auf unser Land. Wählt Willy Brandt“ und „Willy Brandt muß Kanzler bleiben“ waren das Herzstück der Plakatkampagne der SPD.
Der Wahlkampf und die Veranstaltungen des Bundeskanzlers wurden zu einer Art Triumphzug durch die Republik – was wohl in dieser Form bis heute einzigartig in der Geschichte der Bundesrepublik ist. Die fast schon an Euphorie grenzende Begeisterung für den Kanzler, stilisierte ihn zu einer Art säkularisiertem Heiligen.
Ein besonderes Kennzeichen dieses Wahlkampfes war darüber hinaus die außerordentliche Politisierung großer Teile der Bevölkerung, die sich u.a. in einem massenhaften Bekenntnis zur eigenen politischen Meinung und dem Engagement für den favorisierten Kandidaten bzw. für die betreffende Partei manifestierte. Ansteckbuttons und Autoaufkleber waren überall zu sehen. Am ausgeprägtesten war das Engagement für Willy Brandt und die SPD.
Eine ausgeprägte politische Polarisierung
Initiativen unter dem Motto „Bürger für Brandt“ schossen wie Pilze aus dem Boden. Auch Prominente aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens setzten sich aktiv für die Wiederwahl des Bundeskanzlers ein. Die 1969 gegründete „Sozialdemokratische Wählerinitiative“ entwickelte einen regelrechten Bewegungscharakter, getragen von der Mittelschicht, mit Willy Brandt als Identifikationsfigur und „Helden“.
Dieser hohe Politisierungsgrad resultierte aus einem verstärkten Verlangen nach aktiver politischer Partizipation – auch außerhalb von politischen Parteien. Auch die ausgeprägte politische Polarisierung dieser Zeit, die sich u.a. im Verhältnis von Regierung und Opposition zeigte, hatte ihre Entsprechung in der Bevölkerung und begünstigte die aktive Beteiligung vieler Menschen am politischen Prozess.
Die Bundestagswahl des Jahres 1972 markiert damit auf vielen Feldern einen vorläufigen Höhepunkt: Es war der am stärksten personalisierte Wahlkampf, was den SPD-Kandidaten betrifft, blieb aber dennoch eine politische Richtungswahl und keine reine Personalentscheidung. Es war auch der „politischste“ aller Wahlkämpfe, wenn man die aktive Beteiligung betrachtet: Massenhaftes ehrenamtliches politisches Engagement auf allen Seiten und eine heute kaum noch vorstellbare Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent sprechen dafür.
ist Leiterin der Forschung beim Stasi-Unterlagen-Archiv und Mitglied des SPD-Geschichtsforums.