Kultur

Neues Buch: Wie der demokratische Sozialismus im Alltag spürbar ist

In vielen Bereichen der Gesellschaft ist demokratischer Sozialismus gelebte Praxis, meint Christian Krell, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, der über diesen Begriff ein Buch geschrieben hat. Wie die SPD ihn mit Blick auf die Bundestagswahl verwenden sollte, erklärt er im Interview.

von Jonas Jordan · 18. September 2024
Die Forderung nach einem demokratischen Sozialismus steht auch im Grundsatzprogramm der SPD.

Die Forderung nach einem demokratischen Sozialismus steht auch im Grundsatzprogramm der SPD.

Was war der Auslöser, ein Buch über demokratischen Sozialismus zu schreiben?

Bei den fortschrittlichen politischen Kräften gibt es eine gewisse Orientierungslosigkeit. Sie sind in der Defensive. Diejenigen, die die Gesellschaft zum Besseren verändern wollen, stehen vor der Frage, wie sie politische Mehrheiten gewinnen und in schwierigen Zeiten Reformen und Unterstützung dafür organisieren können. Viele dieser Fragen sind nicht neu, sondern haben Menschen, die sich für fortschrittliche Politik engagiert haben, früher schon bewegt. Zu zeigen, wie das gelungen ist, wollte ich mit einem kleinen anschaulichen Bändchen versuchen. Es ist kein dickes Theoriebuch, sondern gut lesbar.

Zur Person:

Christian Krell ist Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Er lehrt an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen Politikwissenschaft und Soziologie. Im Schüren-Verlag hat er kürzlich das Buch „Eine Idee für morgen – über die Aktualität des demokratischen Sozialismus“ veröffentlicht. 72 Seiten, mit Zeichnungen von Ansgar Lorenz, 1. Auflage, Mai 2024, 10 Euro.

Sie zitieren darin auch den Theoretiker Eduard Bernstein, der im 19. Jahrhundert von einem „Hineinwachsen in den Sozialismus“ sprach. Wie sehr sind wir in der Bundesrepublik heute in den Sozialismus hineingewachsen?

Es wird manche überraschen, aber wir sind in das, was man so als Sozialismus diskutiert hat, eine gute Richtung gegangen. Ganz viel von dem, was als sozialer und demokratischer Fortschritt diskutiert wurde, steht in unseren Verfassungen, zum Beispiel, dass die Bundesrepublik ein sozialer und demokratischer Rechtsstaat ist. An vielen Stellen sind die Forderungen von Sozialsten gelebte Realität, wenn wir zum Beispiel an das Frauenwahlrecht denken. Viele verbinden das gar nicht mit demokratischem Sozialismus, aber es bestimmt vielfach die Lebenspraxis von Menschen. Bernstein erinnert aber auch daran, dass es immer neue Aufgaben gibt, wenn man eine wirklich freie Gesellschaft schaffen will.

Trotzdem gab es vor fünf Jahren einen großen Aufschrei, als Kevin Kühnert in einem Interview die Idee des Sozialismus ausdefiniert und dabei vor allem über mehr genossenschaftliches Engagement gesprochen hat, was es bei Banken oder Energiegenossenschaften längst gibt. Besteht die Kunst demnach darin, nicht von Sozialismus zu sprechen, ihn aber inhaltlich umzusetzen?

Ja, vielleicht. Es gibt Menschen, die sagen, wir sollten nicht über den demokratischen Sozialismus reden, sondern das soziale Demokratie nennen. Das kann man machen. Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen den beiden Begriffen. Aber es passiert etwas sehr Spannendes: Es gibt eine Renaissance des Sozialismus bei führenden Intellektuellen, Philosophen und Sozialwissenschaftlern. Menschen wie Nancy Fraser, Thomas Piketty oder Axel Honneth. Es tut auch politischen Parteien gut, zu schauen, was da an eigener DNA vorhanden ist und das in Bezug zu setzen zu diesen neuen, stärker werdenden Debatten.

Sollte die SPD den Begriff stärker in den Fokus stellen?

Sie sollte sich dieses Begriffs zumindest bewusst sein. Sie kann Orientierung gewinnen aus ihrer eigenen Vergangenheit. Die Leitvorstellung einer freien Gesellschaft, in der jeder werden kann, was er will, egal wo er herkommt, finden viele Menschen überzeugend. Es geht um eine Gesellschaft, in der Menschen gleiche Freiheitsrechte haben, egal ob sie arm oder reich sind, Mann oder Frau – das ist eine hochattraktive Idee, die im demokratischen Sozialismus steckt. Wenn man sich dessen klar ist, ist viel gewonnen.

Christian
Krell

Die SPD muss mittelfristig über ein neues Grundsatzprogramm nachdenken.

Der demokratische Sozialismus steht auch im Grundsatzprogramm der SPD, dem Hamburger Programm aus dem Jahr 2007. Bräuchte die SPD ähnlich wie die CDU nach 17 Jahren eine Neuauflage?

Ja, die SPD muss mittelfristig über ein neues Grundsatzprogramm nachdenken. Das Hamburger Programm wurde unter sehr anderen Vorzeichen geschrieben. Die Welt hat sich seitdem sehr, sehr drastisch verändert, mit einer ganz anderen internationalen Sicherheitssituation und einer ganz anderen innenpolitischen Lage. 2007 waren wir noch sechs Jahre von der Gründung der AfD entfernt. Deswegen wäre es gut, sich noch einmal grundsätzlich zu positionieren.

Seitdem sind auch die Folgen des Klimawandels – ganz aktuell in Österreich, Tschechien und Polen – noch viel deutlicher spürbarer. Sie werfen in Ihrem Buche die Frage auf: „Was kann der demokratische Sozialismus zur Bewältigung der Klimakrise beitragen?“ Wie würden Sie die Frage beantworten?

Der demokratische Sozialismus kann eine Menge dazu beitragen. Denn die Erfahrung des demokratischen Sozialismus ist, dass man auch zunächst umstrittene Forderungen umsetzen kann, wie den gleichen Lohn für Männer und Frauen. Dafür muss man manchmal werben, man muss für Unterstützung sorgen, aber dann kann man auch tiefgreifende Veränderungen schaffen. Wir brauchen in Klimafragen eine tiefgreifende Veränderung. Wie man das macht, kann man gut aus der eigenen Geschichte ablesen.

Sie diskutieren in Ihrem Buch auch, inwieweit der Wachstumsbegriff noch zeitgemäß ist. Bräuchte es mit Blick auf Klimagerechtigkeit und demokratischen Sozialismus eine andere Messgröße?

Ja, das glaube ich sehr. Auch da steckt sehr viel in der Geschichte der SPD und dem Gedanken von Erhard Eppler darüber, was wachsen soll. Das BIP ist nach Eppler ein dummer Indikator. Er verweist darauf, genauer zu schauen, was unsere Lebensqualität tatsächlich steigert. Und nur das soll wachsen. Das ist wahrscheinlich nicht das immer größere Auto, sondern andere Faktoren wie eine intakte Umwelt, mehr Zeit für unsere Freunde oder Familie. 

Sie nennen im Buch ein Schulfest als Beispiel für die faktische Umsetzung von demokratischem Sozialismus. Das irritiert insofern, als die Bildungschancen in Deutschland immer noch sehr von der Herkunft abhängen. Wie passt das zusammen?

Mir ging es mit dem Beispiel darum, zu zeigen, dass wir in vielen Situationen unseres Alltags Dinge machen, von denen man sagen könnte, dass sie den Prinzipien des demokratischen Sozialismus entsprechen. Eltern setzen sich zusammen mit der Schulleitung und überlegen, wie können wir ein nettes Fest organisieren. Man sorgt dafür, dass es allen dabei gut geht: keine hohen Eintrittspreise und nicht zu ungesunde Lebensmittel, aber ein schöner Nachmittag für alle, und alle bestimmen mit, wie das läuft. Niemand würde auf die Idee kommen, ein solches Fest streng autoritär oder nur nach den Spielregeln des Marktes auszurichten. Das Beispiel zeigt, dass wir in ganz vielen Bereichen unsere Gesellschaft nach Prinzipien des demokratischen Sozialismus organisieren.

Christian
Krell

Die SPD war schon mal erfolgreich mit einer Erzählung des Respekts.

Mit welchen inhaltlichen Aspekten des demokratischen Sozialismus könnte die SPD bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr werben?

Die SPD war schon mal erfolgreich mit einer Erzählung des Respekts. Respekt vor dem Einzelnen, egal, was gerade sein Leben schwierig macht. Ich würde mir eine Erzählung wünschen, die daran anschließt, die zeigt, dass es darum geht, Menschen ein würdevolles, freies Leben zu ermöglichen. Eine Erzählung, die nicht Menschen mit Hass und Hetze gegeneinander in Stellung bringt, sondern eine Erzählung des Miteinanders. Eine Erzählung, die zeigt, dass wir miteinander als Gesellschaft große und kleine Herausforderungen meistern können. Bildungspolitik ist für mich da ein zentraler Punkt: Nur eine starke Gemeinschaft kann Schulen und Kitas so ausbauen, dass jedes Kind eine faire Chance auf ein gutes Leben bekommt. 

Mit eben jener Respektserzählung ist die SPD bei der Bundestagswahl 2021 übrigens auch mit Abstand stärkste Kraft in Ostdeutschland geworden.

Genau. Denn damit können viele Menschen fernab von theoretischen Konzepten etwas anfangen. Respekt vor der eigenen Lebensleistung, Respekt vor dem Wunsch, ein freies, sicheres Leben zu führen. Das ist hochattraktiv und es ist wichtig, dass das sichtbar ist in der eigenen Politik.

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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1 Kommentar

Gespeichert von Martin Holzer (nicht überprüft) am Mi., 18.09.2024 - 14:43

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"Es gibt Menschen, die sagen, wir sollten nicht über den demokratischen Sozialismus reden, sondern das soziale Demokratie nennen. ... Ich sehe keinen großen Unterschied zwischen den beiden Begriffen"

Also wenn man mal auf Wikipedia nachschaut bedeutet Sozialismus doch noch etwas anderes. Dort ist z.B. von der "Überwindung des Kapitalismus" und der "Befreiung der Arbeiterklasse" die Rede. Wie genau kann denn in einer Demokratie der Kapitalimus "überwunden" werden? Enteignet man die "Kapitalisten" einfach so? Oder sollte man eine Entschädigung zahlen? Aber dann haben die Kapitalisten ja wieder "Kapital". Und was macht man mit unseren verbündeten Kapitalisten wie z.B. den USA? Sind das dann wieder Klassenfeinde?

Und wie genau soll dieser "demokratische" Sozialimus funktionieren? Kann man den Sozialismus dann per Wahlen abwählen oder wodurch genau unterscheidet er sich vom konventioniellen Sozialimus?