Geschichte

Reichstagsbrand 1933: Zwei Wahrheiten im „Vorwärts“

Am 27. Februar 1933 brennt der Reichstag. Der „Vorwärts“ schreibt am 28. Februar 1933 in zwei Ausgaben über die Täter: komplett unterschiedlich. Warum?
von Rolf Hosfeld · 27. Februar 2024
Schlagzeile des Vorwärts am 28. Februar 1933: Wenige Stunden später wird die Redaktion in Berlin von der Polizei besetzt.
Schlagzeile des Vorwärts am 28. Februar 1933: Wenige Stunden später wird die Redaktion in Berlin von der Polizei besetzt.

Hitlers Wahlkampf nach der sogenannten „Machtergreifung“ vom 30. Januar 1933 steht ganz im Zeichen der „nationalen Erhebung“. Am 5. März sollen Neuwahlen zum Reichstag diesen Coup bestätigen, aber er kann sich der Mehrheit nicht sicher sein, als am 27. Februar das Reichstagsgebäude in Flammen aufgeht. Abends um neun wird der Brand bemerkt, eine halbe Stunde später können Polizisten im brennenden Parlament den niederländischen Linksanarchisten Marinus van der Lubbe festnehmen. Der „Vorwärts“ bestätigt die Nachricht unter Berufung auf eine Meldung der Nachrichtenagentur W.T.B. (Wolffs Telegraphisches Bureau), allerdings mit dem Zusatz, dass die zuständige Polizeistelle diese Gerüchte nicht bestätigen könne.

Zündeten Nazis den Reichstag an?

„Durch Deutschland wütet der Wahn der Selbstzerstörung“, so das Zentralorgan der SPD: „Und wer Brand stiftet, der wird seine Strafe haben“. Neuere Funde im Bundesarchiv verweisen darauf, dass man am Abend des 27. Februar in der Redaktion des „Vorwärts“ davon ausgeht, dass Nationalsozialisten als Mittäter in Frage kommen. Vieles spricht für die Plausibilität diese These. Schließlich hat Göring erst fünf Tage vorher 50.000 Angehörige von SA und SS in den Polizeidienst übernommen. Der reichsweite Terror von Angehörigen dieser Organisationen war notorisch.

Der SPD-Abgeordnete, Vorwärts- Redakteur und ehemalige Reichstagspräsident Paul Löbe empfindet es noch in seinen Lebenserinnerungen von 1949 als eine „Merkwürdigkeit“, dass das gesamte nationalsozialistische Führungskorps, trotz reichsweitem Wahlkampf, keine halbe Stunde nach dem Ausbruch des Brandes zur Stelle ist, und er ist sich wie viele sicher, dass van der Lubbe den Brand auf keinen Fall allein gelegt haben kann. Erst spät, seit 1962, setzt unter Historikern eine Forschungsdebatte über die Frage „Alleintäterschaft“ oder „Nazicoup“ ein.

Viel spricht für die Alleintäterthese

Dass der Reichstagsbrand ein Coup der Nationalsozialisten ist und keineswegs nur eine geschickt genutzte Möglichkeit, ist lange Zeit eine weit verbreitete Meinung. Akribische Archivrecherchen von Historikern, darunter Sven-Felix Kellerhoff als Verfasser eines Buchs über den Reichstagsbrand, bestätigen inzwischen, dass fast alles für die Alleintäterthese spricht. Letztlich, so Peter Longerich in seiner neuen, monumentalen Hitler-Monographie, wird sich diese Frage allerdings nie endgültig klären lassen.

Und doch tauchen immer wieder irritierende Fragen auf. Am 28. Februar 1933 um zwei Uhr morgens – wenige Stunden nach dem Reichstagsbrand – wird die Redaktion des „Vorwärts“ in Berlin von der Polizei besetzt. Offensichtlich existieren bis dahin zwei verschiedene Versionen von Meldungen über den Brand, die erst kürzlich entdeckt wurden. In der zweiten Version der letzten Vorwärts-Ausgabe vor seinem Verbot ist zwar von „einem Täter” die Rede, aber die Spur wird durch den kommentarlosen Abdruck einer weiteren W.T.B.-Meldung in die Richtung kommunistischer Helfershelfer gerichtet, „die im Reichstag ein- und ausgehen“.

Wollte der „Vorwärts“ dem Verbot entgehen?

Diese Diskrepanz gibt Anlass zu Fragen. Wollte man sich vor einem Verbot schützen? Eine zweite Änderung auf der Titelseite der letzten Vorwärts-Ausgabe spricht dafür. Friedrich Stampfer, der Chefredakteur des „Vorwärts“, spricht am gleichen Abend im Sportpalast auf einer Gedenkfeier zum 50. Todestag von Karl Marx. Stampfer hatte sich seit Ende 1932, unter anderem mit Hilfe der sowjetischen Botschaft, um einen sozialdemokratisch-kommunistischen Ausgleich gegen die nationalsozialistische Gefahr bemüht.

Zudem gibt es Pläne seitens der um das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold formierten „Eisernen Front“, dieser Gefahr mit ernsthaftem Widerstand zu begegnen. „Das Proletariat, zu stärkster Kraft gesammelt in der Eisernen Front, ist in der Tat der Block, an dem die Reaktion scheitern wird“, heißt es in der ersten Vorwärts-Ausgabe vom 28. Februar über die Versammlung im Sportpalast. Dieser Satz fehlt in der zweiten ganz. Sie appelliert nur noch daran, dem „Vorwärts“ trotz aller Verbote treu zu bleiben und am 5. März die SPD auf Liste 2 zu wählen.

Verbot und Verfolgung nicht zu verhindern

Die Sache ist vielleicht eine Episode, aber doch ein Beispiel des mitunter kopflosen Lavierens der SPD in dieser Zeit. Sie ist, wie der französische Historiker Joseph Rovan schreibt, damals „unfähig, den totalitären Charakter des Nazismus in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen“. Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 erhält sie mit 7,2 Millionen Stimmen fast so viel Zustimmung wie bei den Wahlen vom November 1932. Verbot und Verfolgung kann sie damit nicht verhindern.

Autor*in
Rolf Hosfeld

ist freier Autor für den „vorwärts“. Er hat zahlreiche Bücher und Filme zu historischen Themen veröffentlicht.

Weitere interessante Rubriken entdecken

0 Kommentare
Noch keine Kommentare