Wie Annemarie Renger zur ersten Bundestagspräsidentin wurde
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Der Alterspräsident des siebten Deutschen Bundestags, Ex-Kanzler Ludwig Erhard (CDU), beendet die Pause und nimmt die konstituierende Sitzung im Bonner Plenarsaal wieder auf. Es ist Mittwoch, der 13. Dezember 1972, 12.40 Uhr. Erhard verkündet eine Revolution. „Ich stelle hiermit fest, dass die Abgeordnete Frau Renger die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses auf sich vereinigt hat und somit zum Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt worden ist.“ Zum ersten Mal besetzt eine Frau das zweithöchste Amt Deutschlands nach dem Bundespräsidenten und zum ersten Mal ist es ein Mitglied der SPD-Fraktion.
Möglich macht dies der Wahlsieg der SPD bei der vorgezogenen Bundestagswahl im November 1972. Die Sozialdemokrat*innen stellen erstmals die meisten Abgeordneten im Parlament – bei einem Frauenanteil in der Fraktion von fünf Prozent. Fraktionschef Herbert Wehner schlägt vor, eine Frau als Bundestagspräsidentin zu nominieren. Parteichef und Bundeskanzler Willy Brandt macht sich diese Idee zu eigen. Über den Rest sagt Annemarie Renger später selbstbewusst: „Ich habe mich in der Fraktion selber vorgeschlagen. Glauben Sie, man hätte mich sonst genommen?“
Rechte Hand von Kurt Schumacher
Die Kritik an einer Frau in dem hohen Amt ist heftig und unqualifiziert. Den einen gilt Renger als Alibifrau der SPD, andere kritisieren, dass sie sich selbst vorgeschlagen hat. Die FAZ schreibt: „Frau Renger hat den unschätzbaren Vorteil, dass sie gut aussieht. Aber eine Kapazität, was das Geschäft der Repräsentanz des Parlaments und die Handhabe der Geschäftsordnung angeht, kann Frau Renger wohl kaum sein.“
Solche Kritik beeindruckt die 1919 in Leipzig in die sozialdemokratische Familie des Arbeiterführers Fritz Wildung geborene Renger wenig. Sie wächst in Berlin auf, muss in der Nazizeit das Gymnasium wegen ihrer politischen Einstellung verlassen, wird Kaufmannsgehilfin und heiratet 1938 den Werbeleiter Emil Renger. Sohn Rolf wird im selben Jahr geboren. Ihr Mann fällt im Krieg, ebenso drei ihrer vier Brüder. Am Kriegsende ist die Witwe mit ihrem Sohn in der Lüneburger Heide evakuiert. Hoffnung machen ihr die demokratischen Ideen des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher. In Hannover wird sie bald seine engste Vertraute, seine rechte Hand.
Nach Schumachers Tod 1952 wird Renger selbst Politikerin und lernt den Bundestag, dem sie von 1953 bis 1990 angehört, als Abgeordnete kennen. In dieser Zeit wird sie eine der führenden Politikerinnen der SPD. Von 1961 bis 1973 gehört sie dem Parteivorstand an, von 1970 bis 1973 auch dem Präsidium. Von 1966 bis 1973 führt sie den Vorsitz im Bundesfrauenausschuss. Bereits als Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Fraktion von 1969 bis 1972 ist sie die erste Frau auf diesem Posten und beweist, dass sie dieser Aufgabe mehr als gewachsen ist.
Sie stärkt die Rolle der Frauen
„Vielleicht kann gerade deshalb die Tatsache, dass einer Frau zum ersten Male in der deutschen Geschichte das Amt des Parlamentspräsidenten übertragen worden ist, dazu beitragen, Vorurteile abzubauen, die einer unbefangenen Beurteilung der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft noch immer entgegenstehen“, sagt Renger in ihrer Rede nach ihrer Wahl. Nach einem Jahr ist klar, dass sie die Richtige für das Amt ist. In Umfragen ist Annemarie Renger die beliebteste deutsche Politikerin. Ihre Kompetenz und ihr klarer Führungsstil verschaffen ihr bei allen Parteien Respekt und Achtung.
Renger nutzt ihre Popularität für die Rechte von berufstätigen Frauen. Sie startet unter anderem die Aktion „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, die bis heute aktuell ist. Die Frauenquote hält sie für entbehrlich, hatte sie sich doch auch selbst ohne Quote durchgesetzt. Allerdings räumt sie später ein: „Es lag mir nicht, das mit der Quote. Aber es ist doch erfolgreich gewesen.“
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