Geschichte

Herbert Wehner: Er polarisierte wie kaum ein Anderer

Die einen nannten ihn zärlich „Onkel Herbert“, die anderen fürchteten seine harte Hand: Herbert Wehner war einer der geheimnisvollsten und umstrittensten Politiker der Bundesrepublik. Am 22. Oktober 1969 wurde er zum Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion gewählt – und blieb es 14 Jahre lang.
von Renate Faerber-Husemann · 22. Oktober 2019
Seine Wutausbrüche im Plenum sind ebenso Legende wie sein hoher Unterhaltungswert als Redner: Vor 50 Jahren übernahm Herbert Wehner den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion.
Seine Wutausbrüche im Plenum sind ebenso Legende wie sein hoher Unterhaltungswert als Redner: Vor 50 Jahren übernahm Herbert Wehner den Vorsitz der SPD-Bundestagsfraktion.

Herbert Wehner hatte viele Facetten: Die einen nannten ihn – oft in angemaßter Vertraulichkeit – „Onkel Herbert“. Andere fürchteten die harte Hand, mit der er seit dem 22. Oktober 1969 bis zum März 1983 die SPD-Bundestagsfraktion führte. Der einstige Kommunist, der nach dem Ende der Weimarer Republik  in den Untergrund abtauchen musste und 1937 nach Moskau floh, war sicher einer der geheimnisvollste und umstrittensten Politiker der Bundesrepublik. Er wusste das, hat vielleicht sogar mit diesem Ruf kokettiert, etwa wenn er während einer Rede im Bundestag sagte: „Ich bin es gewöhnt, ausgepfiffen und niedergebrüllt zu werden. Dessen schäme ich mich nicht. Es werden sich andere dafür schämen müssen.“

Angesehen und gefürchtet

Er polarisierte die Menschen wie kaum ein anderer Politiker. Doch diejenigen, die ihn näher kennenlernten, vertrauten ihm über Parteigrenzen hinweg. Im Bundestag war er angesehen – aber auch gefürchtet – wie wenige. Der in Dresden geborene Sozialdemokrat ist nicht nur wegen seiner Klugheit, mit der er die SPD ins bürgerliche Lager führte, berühmt geworden, sondern auch durch seine oft maßlosen Ausbrüche im Bundestag. Mit 58 Verwarnungen war er der Politiker mit den meisten Ordnungsrufen.

Seine Wutausbrüche im Plenum sind ebenso Legende wie sein hoher Unterhaltungswert als Redner – etwa während einer Debatte über die berühmt-berüchtigte Sonthofen-Rede von Franz-Josef Strauß. Der hatte vor dem Hintergrund des RAF-Terrors gesagt, in der SPD-FDP-Bundestagsfraktion sitze „ein ganzer Haufen von Sympathisanten der Bader-Meinhof-Verbrecher“. Wehners Antwort ist Geschichte geworden: „Sie sind selbst geistig ein Terrorist. Der Herr Strauß ist geistig ein Terrorist, habe ich gesagt. Geistig!“

Der „mitfühlende Vulkan“

Doch das war nur die eine Seite des temperamentvollen Redners. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat ihn einmal einen „mitfühlenden Vulkan“ genannt. So hat er zum Beispiel ganz im Stillen für zahllose DDR-Bürger Erleichterungen ausgehandelt. Und viele Sozialdemokraten können Geschichten darüber erzählen, wie er ihnen geholfen hat, ganz außerhalb der Öffentlichkeit.

Vielen Genossen blieb er sein Politikerleben lang ein Rätsel. Er war Regisseur der Verhandlungen, die dem Land einen Bundeskanzler Kiesinger bescherten. Er zimmerte die sozialliberale Koalition mit, obwohl er von den Liberalen nichts hielt. Er demontierte Bundeskanzler Willy Brandt, obwohl der in der Partei und weit darüber hinaus geachtet war. Er war konspirativ, misstrauisch, hart, extrem machtbewusst, aber eben auch weich bis zur Sentimentalität, großzügig, ein bedingungsloser Familienmensch.

In den letzten Jahren seines Lebens wurde er zu einem wegen seines Gedächtnisverlusts hilflosen, verängstigten Menschen. Er starb 1990 an der Alzheimer-Krankheit. Die Wiedervereinigung, auf die er Jahrzehnte seines Lebens hingearbeitet hatte, durfte er bewusst nicht mehr erleben.

Autor*in
Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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