10. März 1950: Als Wehner einen Nazi aus dem Bundestag prügelte
10. März 1950: Alt-Nazi Wolfgang Hedler hetzt im Bundestag gegen Widerstandskämpfer*innen und Jüdinnen und Juden. Herbert Wehner und andere SPD-Abgeordnete prügeln ihn daraufhin aus dem Parlament. Ein Sinnbild für den Kampf um die junge Demokratie
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Als Bundestagspräsident Erich Köhler am 10. März 1950 eine Debatte über die Saarfrage eröffnen will, kommt es im Bonner Parlament zu Tumulten. „Hedler raus!“, rufen einige Abgeordnete der SPD-Fraktion. Ihr Forderung richtet sich an Wolfgang Hedler. Der Abgeordnete aus Schleswig-Holstein war Anfang 1950 nach starkem öffentlichem Druck aus der Deutschen Partei (DP) ausgeschlossen worden und sitzt nun als Fraktionsloser im Parlament.
Hedlers Hetze gegen Widerstandskämpfer*innen und Jüd*innen
Was war geschehen? Hedler, in der Weimarer Republik Mitglied der paramilitärischen Vereinigung „Stahlhelm“ und ab 1932 Mitglied der NSDAP, hatte am 25. November 1949 im schleswig-holsteinischen Einfeld eine Rede gehalten. „Die Deutsche Partei stellt fest, dass Deutschland die geringste Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat“, sagt Hedler. Schuld seien vielmehr „die Widerstandskämpfer“, die er des „Verrats“ und der „Sabotage“ bezichtigt.
Auch zum Holocaust äußert sich der DP-Abgeordnete in seiner Rede. „Ob das Mittel, die Juden zu vergasen, das gegebene gewesen ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Vielleicht hätte es auch andere Wege gegeben, sich ihrer zu entledigen“, sagte er. Nachdem die Rede zwei Wochen später in der „Frankfurter Rundschau“ abgedruckt wird, bricht ein Sturm öffentlicher Empörung los. SPD-Partei- und -Fraktionschef Kurt Schumacher beantragt den Ausschluss Hedlers aus dem Parlament.
Wehner wird handgreiflich
Weder Bundeskanzler Konrad Adenauer, der nach der Wahl 1949 eine Koalition mit der DP gebildet hat, noch deren Vorsitzender Heinrich Hellwege reagieren zunächst. Erst als der öffentliche Druck zu groß wird, sieht sich die DP genötigt, Wolfgang Hedler auszuschließen. Ein Zivilprozess wegen „Aufreizung zum Klassenhass und Beleidigung des Andenkens Verstorbener“ endet mit einem Freispruch – wohl deshalb, weil alle drei Richter ebenfalls ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, wie sich später herausstellt.
Der Parteiausschluss hält den damals 50-jähirgen Hedler nicht davon ab, uneingeladen an der Bundestagssitzung am 10. März teilnehmen zu wollen. Als ihn Präsident Erich Köhler von der Sitzung ausschließt, weigert sich Hedler, den Sitzungssaal zu verlassen und muss des Saales verwiesen werden. Mit ihm verlässt die gesamte DP-Fraktion das Plenum. Als Hedler kurze Zeit später trotz Anweisung den Bundestag immer noch nicht verlassen hat, sondern im Ruhesalon ein Interview gibt, in dem er weiter gegen Widerstandskämpfer*innen hetzt, wird er von dem SPD-Abgeordneten Rudolf Ernst Heiland wüst beschimpft.
Mehrere SPD-Abgeordnete, darunter Herbert Wehner, Alfred Gleißner und Ernst Roth, kommen ihm zu Hilfe. Sie zerren Hedler aus seinem Sessel, stoßen ihn durch die Tür und drängen ihn durch die Gänge des Parlaments. Dabei stürzt Hedler durch eine Glastür und erleidet leichte Verletzungen. Wehner und Heiland werden dafür für eine Woche von den Sitzungen des Bundestags ausgeschlossen und später von einem Zivilgericht zur Zahlung von Schmerzensgeld verurteilt.
Klare Positionierung der SPD für die Demokratie
Auch den SPD-Parteivorstand beschäftigen die Ereignisse. „Der Freispruch Hedlers habe Deutschland mindestens 100 Millionen Dollar Marshallhilfe gekostet“, rechnet Parteichef Schumacher den Genoss*innen bei einer Sitzung wenige Tage nach dem Vorfall im Parlament vor. So berichtet es der „Neue Vorwärts“ am 17. März 1950. „Wir müssen den früheren Nazis sagen, dass der Neofaschismus sie an der sozialen Wiedereinordnung verhindert“, fordert Schumacher laut dem Bericht, der mit „Deutsche Demokratie in Gefahr“ überschrieben ist.
Wolfgang Hedler ist in den Anfangsjahren der Bundesrepublik nämlich alles andere als ein Einzelfall. In der „Deutschen Partei“ tummeln sich zu dieser Zeit allerlei Alt-Nazis und auch die Gerichte stehen nicht vollumfänglich auf dem Boden der jungen Demokratie. In einer „Aussprache über die Gefahren des Neofaschismus“ äußern sich deshalb mehrere SPD-Parteivorstandsmitglieder besorgt darüber, „dass die Justiz die Demokratie im Kampfe um ihre Selbstverteidigung im Stich lässt“. Es wird deshalb auch erwogen, eine „Organisation“ zum Schutz „der SPD-Versammlungen“ ins Leben zu rufen.
Auch wenn zu diesem Zeitpunkt, knapp fünf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs noch niemand weiß, wohin sich die Bundesrepublik entwickeln wird, stellt der „Neue Vorwärts“ am 17. März 1950 für seine Leser*innen klar, „dass sich die SPD der Gefahren voll bewusst ist, die der deutschen Demokratie drohen und dass sie entschlossen ist, ihnen mit Festigkeit und Wachsamkeit zu begegnen“.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.