Geschichte

Alexander Parvus: Der Mann, der Lenin zurück nach Russland brachte

Zuerst erklärte er den Deutschen Russland, dann wurde er zum glühenden Gegner der Zarenherrschaft. Mit der Organisation der Rückreise Lenins nach Russland 1917 hatte der Sozialdemokrat Alexander Parvus seinen Anteil an der Russischen Revolution.

von Lothar Pollähne · 13. Dezember 2024
Vom Theoretiker zum praktischen Revolutionär: Alexander Parvus

Vom Theoretiker zum praktischen Revolutionär: Alexander Parvus

Die Peter-und-Paul-Festung im heutigen Sankt Petersburg gilt als Inbegriff des zaristischen Unterdrückungsapparates. Die halbtonnenförmigen Zellen sind karg, eiserne Bettgestelle hängen von den Wänden, eine kleine Fensteröffnung lässt spärliches Licht in die Räume. Gemeinhin gelten Festungsmauern als undurchdringlich. Im August 1906 schafft es Rosa Luxemburg mit etwas finanzieller Nachhilfe einsitzende Anführer der Februarrevolution von 1905 zu besuchen und notiert: „Der Dicke ist magerer geworden, aber voll Energie und Laune.“

Der Dicke, der sich selbstironisch „Parvus“, der Kleine, nennt, hat gute Gründe zur guten Laune. Kurz nach Rosas Besuch gelingt ihm während des Transports nach Sibirien die Flucht, nachdem er die Wachmannschaft unter den Tisch getrunken hat. Parvus, der mit bürgerlichem Namen Israel Lazarewitsch Helphand heißt, ist in jenen Jahren der bekannteste russische Sozialdemokrat. Im weltoffenen Odessa, wo er seine Kindheit und Jugend verbringt, gerät er 1883 als 16-Jähriger in revolutionäre Kreise.

Anstoß für eine der wichtigsten Theorie-Debatten der Sozialdemokratie

1887 nimmt der junge Helphand ein Studium der Volkswirtschaft an der Universität Basel auf, das er 1891 mit einer Dissertation über „Die technische Organisation der Arbeiter unter dem Aspekt der Ausbeutung der Massen“ abschließt. Neben seiner universitären Ausbildung erhält der revolutionär gesinnte junge Mann auch eine profunde politische Ausbildung. Georgi Plechanow, der als geistiger Vater der russischen Sozialdemokratie gilt, führt ihn in die Grundlagen des Marxismus ein.

Bald nach dem Studium zieht es Helphand nach Deutschland. Er lernt Karl Kautsky und Clara Zetkin kennen und beginnt für verschiedene sozialdemokratische Blätter zu schreiben, darunter „Die Neue Zeit“, das wohl wichtigste sozialistische Theorieorgan Europas. 1895/96 gibt Parvus, wie er sich fortan nennt, mit seiner Artikelserie „Staatsstreich und politische Massenstreiks“ den Anstoß für die — neben dem Revisionismusstreit — wichtigste theoretische Debatte der deutschen Sozialdemokratie. 

Russland-Eklärer und Zaren-Gegner

Zu dem journalistischen Tagesgeschäft, etwa als Chefredakteur der „Sächsischen Arbeiterzeitung“ in Dresden, liegt Parvus Hauptinteresse in der Aufklärung über die Zustände in Russland. Dabei wird er von dem unbändigen Willen angetrieben, die Zaren-Herrschaft zu Fall zu bringen — koste es, was es wolle. 1899 reist Parvus für mehrere Monate nach Russland, das von einer schlimmen Hungersnot geplagt wird. Seine Reiseeindrücke veröffentlicht er 1900 im Dietz-Verlag.

Das Buch „Hungersnot in Russland“ wird für viele Sozialist*innen zur wichtigsten Informationsquelle über die russischen Zustände, für die Parvus die kapitalistische Entwicklung im Lande verantwortlich macht. Großen Respekt erwirbt sich Parvus mit seiner eigenen Zeitschrift „Aus der Weltpolitik“, in der er 1895 einen Krieg zwischen Russland und Japan voraussagt, in dessen Folge es zur Revolution kommen werde. Als diese im Februar 1905 ausbricht, wird aus dem Theoretiker Parvus der revolutionäre Praktiker.

Eine Unperson für „anständige“ Sozis

Ein wichtiger Baustein für die revolutionäre Agitation in Russland ist die Zeitschrift „Iskra“ (Der Funke), die Parvus gemeinsam mit Lenin ab 1901 in München herausgibt. Parvus stellt seine Wohnung als Druckerei zur Verfügung und besorgt die nötigen Finanzmittel; Lenin übernimmt die Redaktionsleitung. Beide schätzen sich zwar, richtige Freunde jedoch werden sie nie. Nach der Spaltung der russischen Sozialdemokratie im Jahr 1903 trennen sich die geistigen Wege von Parvus und Lenin. Dafür tritt Trotzki auf den Plan, für den Parvus eine Zeit lang der geistige Vater wird. Trotzkis Idee von der „Permanenten Revolution“ ist zum Teil das Ergebnis gemeinsamer Diskussionen. 

Nach seiner Flucht aus Russland, das er hernach nie wieder betreten wird, versucht sich Parvus als Verleger und verursacht einen Skandal. Er unterschlägt Tantiemen, die dem „Sturmvogel der Revolution“, Maxim Gorki, für die Aufführung seines Stückes „Nachtasyl“ zugestanden hätten. Die Gelder verschwendet Parvus für eine Lustreise mit seiner Geliebten. Die Bolschewiki sind sauer und erwirken die Sitzung einer Sonderkommission der SPD, an der August Bebel, Karl Kautsky und Clara Zetkin teilnehmen. Parvus wird aus der Partei ausgeschlossen und gilt fortan für „anständige“ Sozis als Unperson. 

Trotzki ist entsetzt

Möglichen weiteren Drangsalierungen entzieht sich Parvus, indem er 1910 in die Türkei übersiedelt. Dort macht er ein Millionenvermögen als Lebensmittellieferant der türkischen Armee und Agent des griechischen Waffenlieferanten Basil Zaharoff und der deutschen Waffenschmiede Krupp. Damit wird er endgültig zur zwielichtigsten Person des internationalen Sozialismus. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kann er seinen lange gehegten Plan wieder aufleben lassen, das Zarenreich mit Hilfe des deutschen Militärs zu stürzen und damit die russische Revolution herbeizuführen. „Der Triumph des Sozialismus kann nur durch einen Sieg Deutschlands über Russland erreicht werden,“ behauptet Parvus, „weil nur Deutschland Träger einer hohen Kultur ist.“

Sein ehemaliger Freund Leo Trotzki reagiert entsetzt. Er hat Parvus stets als Wegbereiter für den Sozialismus betrachtet hat und erklärt daraufhin: „Einen Parvus gibt es nicht. Durch den Balkan wandert ein politischer Falstaff, der seinen Doppelgänger verleumdet.“ Im Januar 1915 trifft Parvus mit dem deutschen Botschafter in der Türkei zusammen und erklärt diesem: „Die russische Demokratie kann nur durch die vollkommene Zertrümmerung des Zarismus und die Zerteilung Russlands in kleinere Staaten ihre Ziele erreichen.“

Organisator von Lenins Zugfahrt nach Russland

Ende Februar des Jahres kann Parvus seine Pläne in Berlin im Auswärtigen Amt vorstellen. Dazu gehört für ihn vor allem die „finanzielle Unterstützung der sozialdemokratischen (russischen) Majoritätsfraktion, die den Kampf gegen die zarische Regierung mit allen Mitteln fortführt“. Dies verbindet er mit dem Hinweis, deren Führer seien in der Schweiz aufzusuchen. 

Außerdem erbittet sich Parvus finanzielle Unterstützung für eine massive internationale Propagandatätigkeit gegen den Zarismus. Am Ende fließen nach Schätzungen Eduard Bernsteins 50 bis 60 Millionen Reichsmark in die Kassen der Majoritätsfraktion, also der Bolschewiki. 

Als am 8. März 1917 in Russland der Generalstreik ausgerufen wird, überschlagen sich die Ereignisse. Am 15. März dankt Zar Nikolaus II. ab und Parvus sieht seine Stunde gekommen. Am 9. April beginnt die von ihm organisierte Reise Lenins aus dem Schweizer Exil durch einen eigens eingerichteten Eisenbahnkorridor nach Russland. Nach der Oktoberrevolution wird der Waffenstillstand am 15. Dezember 1917 verkündet und Parvus Rolle als Wegbereiter der Revolution ist beendet.

Nach dem Krieg zieht sich Parvus in seine Villa „Waltrud“ in Berlin-Schwanenwerder zurück. Viele Freunde hat er nicht mehr. Eine Ausnahme bildet der nachmalige preußische Kultusminister Konrad Haenisch, der sich aus Bewunderung „Parvulus“ nennt. Israel Lazarewitsch Helphand, der große Kleine, stirbt am 12. Dezember 1924 in Berlin.

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Lothar Pollähne

ist Journalist und stellvertretender Bezirksbürgermeister in Hannover.

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