100 Jahre Oktoberrevolution: Zwischen Verdrängung und Erinnerung
Die russische Oktoberrevolution von 1917 gilt als eines der entscheidendsten Ereignisse der jüngeren Weltgeschichte: Nachdem das Zarenregime bereits durch die bürgerlich-liberale Februarrevolution gestürzt wurde, übernahmen in der Oktoberrevolution die kommunistischen Bolschewiki die Macht. Die Folge war ein verheerender Bürgerkrieg zwischen „Roten“ und „Weißen“, der erst 1922 endete. Die siegreichen Bolschewiki gründeten die Sowjetunion, die als Supermacht und Kernstaat des Realsozialismus bis 1991 die Weltpolitik prägen sollte.
Oktoberrevolution: Die rote Utopie
Moderator Dietmar Pieper (Der SPIEGEL) versucht, die Teilnehmer der Podiumsdiskussion „Die rote Utopie: Wie das kommunistische Experiment das 20. Jahrhundert prägte“ auf die Leitfrage nach der Bedeutung der Oktoberrevolution für die Gegenwart einzuschwören. Das gelingt nur teilweise. Vor allem der Lyriker und Schriftsteller Wolf Biermann, dessen Ausbürgerung 1976 aus der DDR wegen staatskritischer Äußerungen heftige Künstlerproteste auslöste, hat seine ganz eigenen Thesen zu verkünden: So sei die Lage in Russland etwa noch gegen Ende der Zarenzeit eigentlich nicht schlechter gewesen als in – Schweden. Die implizierte Botschaft: Das revolutionäre Geschehen sei eigentlich ohne Anlass gewesen. Das provoziert Gelächter, aber auch Kopfschütteln im Publikum.
Weniger zum Lachen: Erst bezeichnet Biermann nicht nur den bolschewistischen Kommunismus, sondern auch heutige sozialistische Bewegungen als Suche nach der „Endlösung der sozialen Frage“ – die Anlehnung an NS-Rhetorik zum Völkermord an den europäischen Juden gibt er freimütig zu. Und weiter: „Mir der Revolution begann das Unglück“, ohne die Oktoberrevolution hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben, behauptet Biermann. Da scheint für kurze Zeit der Geist von Ernst Nolte über der Versammlung im Museumshof zu schweben: Der bekannte Historiker hatte 1986 mit Thesen darüber, der Holocaust im Dritten Reich sei eigentlich nur eine Reaktion auf den Bolschewismus und seine Folgen gewesen, den berühmt-berüchtigten Historikerstreit ausgelöst. Die revisionistische Position Noltes und seiner Mitstreiter gilt heute weitgehend als widerlegt.
Kommunistisches Manifest als ursozialdemokratisches Werk
Katja Gloger, langjährige Moskau-Korrespondentin in Moskau, behagen solche Äußerungen sichtlich nicht. Die Journalistin, die als junge Studentin über einem Russlandaufenthalt die „ernüchternde“ Realität des Sowjetkommunismus persönlich kennen gelernt und sich schnell von ihm abgewandt habe, empfiehlt die Lektüre von Karl Marx: Dessen „Kommunistisches Manifest“ sei ein ursozialdemokratisches Werk, das von den Gedanken der Freiheit, Gerechtigkeit und der Sozialstaatlichkeit durchzogen sei. Mit der sowjetischen Realität hätten Marx’ Schriften nichts zu tun gehabt.
Welchen Stellenwert hat die Revolution heute in Wladimir Putins Russland? Die Kulturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa, die sich unter anderem im Rahmen ihrer Tätigkeit in der MEMORIAL-Gesellschaft mit der Aufarbeitung des Stalinismus und der Menschenrechtslage im heutigen Russland beschäftigt, sagt dazu: Das bestimmende „Narrativ“ über die Oktoberrevolution, die „viele Leben umgestaltet“ habe, sei im Russland der Gegenwart „zerfallen“. Nun sei vieles widersprüchlich: In Moskau gebe es eine Parade zur Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ genannten Zweiten Weltkrieg anstelle eines Umzugs zu Ehren der Revolution.
Vertane Chancen der russischen Geschichte
Figuren wie Lenin und auch Stalin würden zwar öffentlich verehrt, erklärt Scherbakowa, aber: Sie würden als starke Führer eines mächtigen russischen Imperiums gesehen, nicht als Anführer eines revolutionären Kommunismus. Der Grund dafür sei Scherbakowa zufolge die Angst des Kremlregimes davor, die Erinnerung an vergangene revolutionäre Bewegungen könne womöglich Kritiker beflügeln und neue oppositionelle Bewegungen auslösen.
Die Idee eines starken russischen Imperiums halten Gloger und Scherbakowa gleichermaßen für einen „Mythos“ und eine „Lüge“. Russland brauche dringend eine Zukunft statt einer neu konstruierten Vergangenheit von „Putins Ideologiedesignern“, fordert Gloger. Scherbakowa klagt, dass eine Aufarbeitung des Stalinismus in Putins Russland nicht stattfinde, über die Täter werde nicht gesprochen. Wehmut klingt schließlich in ihrer Stimme mit, wenn sie von 1917 als eine von vielen vertanen Chancen in der russischen Geschichte spricht: 1991 sei es nach dem Zerfall der Sowjetunion ähnlich gewesen.
ist bis zum 1. Dezember 2017 Praktikant in der Redaktion des vorwärts. Der gebürtige Hamburger studiert Politikwissenschaft im Master an der Freien Universität Berlin.