80 Jahre Überfall auf die Sowjetunion: Erinnerung, die spaltet
imago stock&people
Vor 80 Jahren überfielen das Deutsche Reich und seine Verbündeten in einem Angriffskrieg („Unternehmen Barbarossa“) die Sowjetunion. Damit brach das nationalsozialistische Deutschland einseitig den Pakt mit Stalins UdSSR vom 23. August 1939. Auf Befehl Hitlers und der deutschen Generalität führte die Wehrmacht diesen Feldzug von Beginn an als Vernichtungskrieg. Der „Kommissarbefehl“, der die willkürliche Erschießung von Zivilisten rechtfertigte, steht ebenso für diese Verbrechen wie die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch Einsatzgruppen der SS, die hinter den deutschen Truppen, aber mit ihrer Unterstützung agierten. Im „Generalplan Ost“, der unmittelbar nach dem Überfall erstellt wurde, wurde von deutschen Experten eine Blaupause für die „Germanisierung“ der eroberten Gebiete ausgearbeitet.
Von Beginn des Krieges an ignorierte die Wehrmacht nicht nur das Kriegsrecht; sie führte einen Krieg, dessen Ziel nicht nur die Eroberung, sondern der Genozid an der gegnerischen Bevölkerung war. Während die slawische Bevölkerung unterworfen, versklavt und deportiert wurde, begannen die Massentötungen vonJuden bereits im Sommer 1941. Das Massaker von Babyn Jar, einem Vorort von Kyjiw, am 29. und 30. September 1941 steht bis heute für den „Holocaust durch Kugeln“, den die Einsatzgruppen im gesamten Herbst und Winter dieses Jahres verübten.
Die Verstrickung der Wehrmacht wurde geleugnet
Im Nachkriegsdeutschland wurde die verbrecherische Dimension des Krieges gegen die Sowjetunion heruntergespielt; zwar waren seit den Einsatzgruppenprozessen von 1947 die Verbrechen der SS bekannt, doch insbesondere die Verstrickung der Wehrmacht in Holocaust und Völkermord wurde geleugnet. Dies änderte sich erst mit der Kontroverse um die „Wehrmachtsausstellung“ von 1995. Durch die seit den 1990er Jahren vorangetriebene zeithistorische Täterforschung sind die Biografien der nationalsozialistischen Verbrecher mittlerweile gut bekannt – insbesondere die Teilnahme der akademischen Eliten an den Verbrechen in Osteuropa wurde vielfältig dokumentiert.
So dauerte es mehrere Jahrzehnte bis die historische Forschung ein umfassendes Bild des verbrecherischen Geschehens und seiner Akteure gezeichnet hat. Heute besteht kein Zweifel mehr daran, dass große Teile der deutschen Eliten nicht nur von den Verbrechen „im Osten“ wussten, sondern dass sie sich aktiv an ihnen beteiligten.
Renaissance des russischen Nationalismus
Doch auch für die sowjetische Erinnerung war das Jahr 1941 stets ein problematisches Datum. Schließlich galt es, die militärische Katastrophe des Sommers und Herbst zu erklären. Warum hatte Stalin die zahllosen Warnungen vor einem deutschen Überfall bis zuletzt ignoriert? Wer die Kriegstagebücher von Wassilij Grossman liest, dem großen Chronisten dieses Krieges, der durchlebt noch einmal den Schrecken und das Chaos dieser ersten Wochen und Monate. Stalin selbst verstummte im Angesicht der Katastrophe und fand erst am 3. Juli den Mut, die Völker der Sowjetunion zum Widerstand aufzurufen. Geführt wurde der Zweite Weltkrieg als „Großer Vaterländischer Krieg“, nicht für den Sozialismus, sondern für die Heimat.
Der Krieg beschleunigte auch die Renaissance des russischen Nationalismus, die sich bereits in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre angekündigt hatte. Der Krieg gegen Hitler wurde von der Sowjetunion geführt, doch Stalin bedankte sich 1945 besonders beim russischen Volk für den Sieg, dem damit ein besonderer Ort in der offiziellen Erzählung zugewiesen wurde. Der Holocaust wurde in der sowjetischen Geschichtspolitik hingegen verschwiegen. Er passte nicht in die heroische Erzählung, die von nun an mehr noch als die Revolution selbst den sowjetischen Staat legitimierte.
Die Erinnerung spaltet den post-sowjetischen Raum
Mit dem Ende der UdSSR öffneten sich die Archive und die monolithische sowjetische Geschichtskultur machte Platz für Ambivalenzen. Die sowjetische Sicht ersetzten zahlreiche nationale Narrative, die der Komplexität des Geschehens besser gerecht werden, aber auch ihre eigenen Verzerrungen und Mythen beinhalten. Heute wird das Jahr 1941 in Russland, der Ukraine, Belarus oder im Baltikum im jeweiligen nationalen Kontext erinnert. Als autoritäre Staaten betreiben insbesondere Russland und Belarus eine staatlich getragene Geschichtspolitik, die darauf zielt, der eigenen Meistererzählung die Deutungshoheit zu verschaffen. Trotz der gemeinsamen Katastrophenerfahrung spaltet die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg heute den post-sowjetischen Raum.
Die deutsche Öffentlichkeit war lange auf das bilaterale Gedenken mit Russland fixiert, das sich als exklusiver Nachfolgestaat der Sowjetunion inszeniert. Tatsächlich wurden im Krieg aber auch das Baltikum, die Ukraine und Belarus verheert und es ist unsere Aufgabe, Raum für die verschiedenen Erfahrungen und Erzählungen zu schaffen. Denn auch wenn dieser Krieg vom Deutschen Reich begonnen wurde, so handelt es sich eben doch um ein europäisches Geschehen, das sich einfachen Deutungen entzieht und dessen Komplexität es in Forschung und Erinnerung zu würdigen gilt. Deshalb sollte es auch im Gedenken keinen Platz für nationale oder bilaterale Alleingänge oder Sonderwege geben; 80 Jahre nach „Barbarossa“ gilt es darüber nachzudenken, wie wir zu einem inklusiven, europäischen Gedenken an diesen furchtbaren Krieg kommen können. Noch sind wir weit davon entfernt.
node:vw-infobox
ist Osteuropahistoriker am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschun(ZZF) in Postdam leitet dort das Forschungsnetzwer "Legacies of Communism" und unterrichtet an der Humboldt Universität zu Berlin. Er ist Mitglied des SPD-Geschichtsforums.