Geschichte

28. März 1849: Wie die Paulskirchenverfassung Grundlage unseres Staates wurde

Am 28. März 1849 beschloss die Frankfurter Nationalversammlung die „Verfassung des Deutschen Reiches“. Auch wenn sie am Widerstand Friedrich Wilhelms scheiterte, ließ sich das Rad in vielen Bereichen nicht mehr zurückdrehen.

von Peter Brandt · 28. März 2024
Grundlage des nationalen Verfassungsstaats: die Frankfurter Paulskirchenverfassung

Grundlage des nationalen Verfassungsstaats: die Frankfurter Paulskirchenverfassung

Am Anfang war die Revolution, entstanden aus struktureller und konjunktureller Wirtschaftskrise in einer Gesellschaft im Übergang zum Kapitalismus, verschärfter Massenarmut und den Ansprüchen einer zunehmend breiteren Emanzipationsbewegung liberal-nationalen bzw. national-demokratischen Charakters („Demokraten“ nannten sich derzeit nur die radikaleren Oppositionellen.)

Ein aus Abgeordneten von Landtagen, die in Süd- und Mitteldeutschland schon länger bestanden, und Repräsentanten der bürgerlichen Opposition eigenmächtig gebildetes Vorparlament entschied Ende März 1848, nach etwas eingeschränktem allgemeinem und gleichem Männerwahlrecht (das Frauenwahlrecht wurde noch kaum thematisiert), eine Deutsche Nationalversammlung wählen zu lassen und nach Frankfurt am Main einzuberufen. Dort trat sie am 18. Mai erstmals in der Paulskirche zusammen. Es dominierte unter den Abgeordneten das akademisch, insbesondere juristisch ausgebildete Bürgertum.

Vorformen parlamentarischer Parteien

Unterschieden nach ihren Tagungsstätten in Rasthäusern, bildeten sich politische Fraktionen, Vorformen parlamentarischer Parteien; ein beträchtlicher Teil der Abgeordneten, rund ein Drittel, blieb fraktionslos. Die monarchistische Rechte mit etwa sechs Prozent der Sitze sammelte sich im Café Milani, das konstitutionell-liberale rechte Zentrum im Casino, im Landsberg und im Augsburger Hof (zusammen ca. 34 Prozent), das dezidierter liberale linke Zentrum im Württemberger Hof und im Westendhall (zusammen ca. 13 Prozent), die demokratische Linke im Deutschen Hof und im Donnersberg (zusammen ca. 15 Prozent).

Die rechtsliberale Hauptgruppierung trat für eine monarchische Exekutive und eine föderative Gliederung des zu schaffenden nationalen Verfassungsstaats ein. Die demokratische Linke hing dem Prinzip der Volkssouveränität und dem allgemeinen gleichen Wahlrecht an: Sie wollte prinzipiell die großdeutsche Republik, war dann aber teilweise bereit, diese Forderung angesichts der Kräfteverhältnisse zugunsten der Forderung nach einer parlamentarisch-demokratischen Monarchie zurückzustellen, wie sie das linke Zentrum vertrat.

Dieses fungierte mit seinen Vorstellungen, die an den entschiedenen Liberalismus des Vormärz anknüpften, als Klammer zwischen beiden Hauptrichtungen und veranlasste die eine wie die andere immer wieder zu Zugeständnissen. Die regionalen Schwerpunkte der Linken und des linken Zentrums lagen in Südwest- und Mitteldeutschland; das rechte Zentrum besaß keine so ausgeprägten Hochburgen.

Erstmals ein umfassender Grundrechtekatalog

Schon im Vorparlament hatte sich die Tendenz der gemäßigten Liberalen abgezeichnet, dem souveränen Machtanspruch kraft revolutionären Rechts die „Vereinbarung“ mit den etablierten Mächten vorzuziehen. Trotzdem: Das Paulskirchenparlament war die erste durch Volkswahlen legitimierte Vertretung der deutschen Gesamtnation. Vor ihm stand die gewaltige Aufgabe, Deutschland bundesstaatlich unter einer ganz neu auszuarbeitenden Verfassung zu einigen.

Man konzentrierte sich nach dem französischen Vorbild von 1789 erst einmal auf die Erstellung eines umfassenden Grundrechtekatalogs. Die Sicherung der individuellen und kollektiven Freiheitsrechte entsprach den Erfahrungen der Abgeordneten, von denen viele in den Jahrzehnten zuvor von staatlicher Repression betroffen waren. Auch mochte es vernünftig erscheinen, mit dem zu beginnen, was vergleichsweise unumstritten war. Es lässt sich aber nicht übersehen, dass das zeitliche Vorziehen der Beratungen über die Grundrechte die Paulskirche gegenüber den einzelstaatlichen Vorgängen in Verzug brachte – vollends mit dem Sieg der Gegenrevolution in Preußen wie in Österreich im Herbst 1848 (auch wenn es zunächst nur nach einer halben, sich im Rahmen des liberalen Verfassungsstaats haltenden Gegenrevolution aussah).

Der Nationalversammlung und der von ihr gebildeten Regierung des „Reichsverwesers“ standen keine eigenen Machtmittel zur Verfügung. Ohne die Bereitschaft der einzelstaatlichen Regierungen zur Zusammenarbeit besaßen sie wenig Handlungsmöglichkeiten; den Appell an die Selbsttätigkeit des Volkes lehnte die Mehrheit ab.

Die „Kleindeutschen“ setzen sich durch

An die Stelle des Deutschen Bundes von 1815, zusammengesetzt aus 41 fast souveränen Fürstentümern und Freien Städten, sollte laut „Verfassung des Deutschen Reiches“ vom 28. März 1849 ein monarchischer Bundesstaat mit dem preußischen König als Deutschem Kaiser treten. Da die österreichische Regierung den Eintritt der weit nach Ost- und Südosteuropa ausgreifenden Donaumonarchie im Ganzen (anstelle allein der „deutschen“ Teile) verlangte, hatten sich die propreußischen „Kleindeutschen“ durchgesetzt. 

Entstanden wäre eine im europäischen Vergleich ausgesprochen fortschrittliche konstitutionelle Monarchie mit dem wahrscheinlichen Machtschwergewicht im Parlament; das setzte aber das Einverständnis Friedrich Wilhelms voraus, der die ihm zugedachte Rolle nicht akzeptieren wollte und die von den Volksvertretern angebotene – mit dem, wie er meinte, „Ludergeruch der Revolution“ verunreinigte – Kaiserkrone am 3. April 1849 ablehnte. Damit war die Nationalversammlungsmehrheit am Ende ihres Lateins und fügte sich, als die Mehrzahl der Einzelstaaten begannen, Abgeordnete abzuberufen. Schließlich waren es fast nur noch Republikaner, radikale Demokraten und „Social-Demokraten“ mit weitergehenden Zielen, die in einer „Reichsverfassungskampagne“, hauptsächlich in Sachsen, in der Rheinpfalz und in Baden, das Werk der Paulskirche mit der Waffe verteidigten. 

Das Rad lässt sich nicht einfach zurückdrehen

Doch das Wiedererstarken der Monarchien und die politische Reaktion ab Sommer 1848 waren nicht das Einzige, was von der Revolution blieb, wenngleich Angehörige der demokratischen Linken hart verfolgt wurden. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass in der Behördenorganisation, der Rechtspflege und der Verfassungsentwicklung, hinsichtlich der Presse- und Koalitionsfreiheit, der Judenemanzipation und der Vollendung der Agrarreformen das Rad nicht einfach zurückgedreht wurde. Vor allem setzte sich nach 1849 eindeutiger als im Vormärz eine prokapitalistische Wirtschaftspolitik durch, die den weiteren Aufstieg des Bürgertums förderte. 

In der lange intensiv gepflegten Erinnerung der auf die „Arbeiterverbrüderung“ von 1848 zurückgehenden Sozialdemokratie an die Revolution von 1848/49, die auch ein internationales Ereignis gewesen war, wurde vor allem die „Märzrevolution“ und namentlich der 18. März, der Tag blutiger Barrikadenkämpfe in Berlin, hervorgehoben; neben dem Rot der internationalen Arbeiterbewegung erhielt das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung seinen festen Platz. Der 18. März und der 18. Mai 1848 hängen unauflöslich zusammen.

Der mit der Paulskirchenverfassung von den gewählten Vertretern der deutschen Gesamtnation erhobene Anspruch auf Einheit in Freiheit ließ sich angesichts des gewaltigen und nachhaltigen Politisierungsschubs von 1848/49 in der Breite mit seinen organisatorischen und publizistischen Ausdrucksformen nicht mehr aus den Köpfen verbannen. Dass der „Reichsgründer“ von 1867/71, Otto von Bismarck, u. a. mit der Einführung des Wahlrechts von 1849 meinte, an die liberalen und demokratischen Bestrebungen in der Gesellschaft appellieren zu sollen, und dass das Kaiserreich von 1871 – bei allen Einschränkungen – erstmals in der deutschen Geschichte einen nationalen Verfassungsstaat schuf, ist ohne die Ereignisse von 1848/49 schwer vorstellbar.

In seiner Kolumne Im Rückspiegel beleuchtet das Geschichtsforum der SPD historische Ereignisse und zieht Parallelen zur heutigen Zeit. Alle Texte der Reihe finden Sie hier.

Autor*in
Peter Brandt

ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Fernuniversität Hagen und Mitglied des SPD-Geschichtsforums. Er ist der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt.

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