Historikerin Kerstin Wolff: Was wir aus der Geschichte des Frauenwahlrechts lernen können
Frau Wolff, das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Frauenbewegung zurück in die Geschichte zu schreiben. Warum ist das notwendig?
Das ist eine sehr gute Frage. Es wäre schön, wenn es sich tatsächlich schon erledigt hätte – aber sowohl im Studium als auch in der Schule kommt die Frauenbewegung im Geschichtsunterricht nicht wirklich vor. Auch in der Forschung, zum Beispiel zur Novemberrevolution und zum Beginn der Weimarer Republik, wird die Frauenbewegung nicht adäquat berücksichtigt. Dabei war sie eine der wichtigsten sozialen Bewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Es gibt nach wie vor Geschichtsschreibung ohne Frauen – und ohne Frauenbewegung.
Warum wird Frauengeschichte immer noch als eine Art geschichtliche Sonderkategorie behandelt?
Das könnte etwas mit dem Patriarchat zu tun haben! (lacht) Das ist eine etwas flapsige Antwort, aber letztendlich steckt da schon ein bisschen Wahrheit drin. Die Frage ist ja immer: Wer macht Geschichte? Nach wie vor sind es Männer, die eine Männergeschichte machen. Das ist gar nicht unbedingt böse Absicht. Vielmehr geht es darum: Was gilt als erforschenswert? Wer ist wichtig? Wer unwichtig? Das sind gesellschaftliche Strukturen, die sich dort Bahn brechen, und die wir ja in unserer heutigen Zeit auch haben. Geschichte wird jetzt, hier, heute gemacht. Wir gucken mit unseren heutigen Fragen auf Geschichte, auf Gesellschaft von früher. Generell zeigt sich: Allgemeine Geschichte ist Männergeschichte – sie wird uns aber als die Geschichte aller Menschen verkauft.
Dieses Jahr interessiert sich die Öffentlichkeit ausnahmsweise ein bisschen mehr für Frauengeschichte, denn wir feiern in Deutschland 100 Jahre Frauenwahlrecht. Die Einführung 1918 war für Frauenrechtlerinnen ein großer Erfolg. Welche Strategien gab es, um dieses Ziel zu erreichen?
Das war ganz unterschiedlich, es gab nicht die eine Strategie, die zum Erfolg führte. Der Mix macht’s! Die Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland war, wie in anderen Ländern auch, unterteilt in verschiedene Flügel. Da gab es die Bürgerlichen und innerhalb derer dann noch einmal die eher Zögerlichen und die Fortschrittlichen. Die bürgerliche Strategie lautete Öffentlichkeitsarbeit: Petitionen, Reden, Vorträge, Schriften. Ziel war es, das Thema Frauenstimmrecht in die Gesellschaft zu tragen. Die Bürgerlichen hatten aber auch die erstaunlich erfolgreiche Idee, mit der Kommunalpolitik anzufangen. Frei nach dem Motto: Wir kümmern uns offiziell gar nicht so sehr ums Wahlrecht, sondern wir arbeiten so lange in der Kommune mit, bis den Männern klar wird, dass sie ohne uns eigentlich nicht können.
Und dann waren da noch die Sozialdemokratinnen.
Genau, und die haben sich eine ganz eigene Idee der Agitation überlegt: 1910 hoben sie auf dem sozialistischen Frauenkongress in Kopenhagen den Internationalen Frauentag aus der Taufe. Und dieser Frauentag, den wir am 8. März feiern, war der Tag des Frauenwahlrechts. Ich glaube, dass beides wichtig war: Sowohl die Petitionen der Bürgerlichen, als auch der auf die Straße getragene Protest.
Manchmal scheint es, dass die deutsche Frauenbewegung von vielen im Vergleich mit beispielsweise der britischen oder US-amerikanischen als eher langweilig und uninteressant empfunden wird – selbst von vielen Feministinnen.
Das hat etwas damit zu tun, dass die ersten Frauen, die Frauengeschichte erforschten – darunter die Frauenbewegung im 19. und 20. Jahrhundert – in ihre eigene Forschungstradition eingebunden waren. In den 1980ern gab es immer noch die Idee eines deutschen Sonderwegs. Die Frage, die dahinterstand, lautete: Warum hat Deutschland 1933 den Weg in den Faschismus eingeschlagen? Als Antwort haben viele Historikerinnen und Historiker die Zeit um 1900 ausgemacht, wo Deutschland angeblich den Modernisierungsweg, den die anderen Staaten eingeschlagen hatten, verließ. Dadurch sei Deutschland konservativer gewesen, langweiliger. Und das haben auch die Frauen, die sich mit der Frauenbewegung beschäftigen, gespiegelt. Dadurch haben sie nicht gesehen, dass die radikalen Suffragetten in England die Ausnahme waren – und nicht die bürgerlichen oder sozialistischen Wahlrechtskämpferinnen in Deutschland. Die haben nämlich genauso agiert wie ihre Schwestern in Frankreich, in Schweden, auch in Amerika.
Waren die Suffragetten einfach auffälliger?
Ja, und sie passen besser in unsere heutige Bilderwelt. Die Suffragetten haben sehr stark auf Bilder gesetzt: Sie haben sich selber fotografiert und diese Fotografien dann für ihre Propaganda genutzt, aber sie wurden auch fotografiert. Und diese Bilder gibt es heute noch. Im Gegensatz zu den Bildern der deutschen Frauenrechtlerinnen: Vieles wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Es gab 1933 eine große Vertreibungswelle von Frauenrechtlerinnen, viele sind ins Exil gegangen, ohne dass sie irgendetwas mitnehmen konnten. Anita Augspurg und ihre Partnerin Lida Gustava Heymann sind von einer Auslandsreise nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt, sie hatten nichts dabei. Ihr gesamter Nachlass, darunter sicher auch Bilder und Propagandamaterial, ist dann einfach vernichtet worden. Diese Problematik haben wir in anderen Ländern nicht.
A propos andere Länder: Inwiefern gab es Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Frauenbewegungen?
Sie waren alle miteinander vernetzt, haben sich ausgetauscht, von ihren Erfahrungen berichtet: Wie macht ihr das eigentlich? Womit hattet ihr Erfolg? Auch die Argumentation war ähnlich. Früher gab es in der Frauenwahlrechtsforschung die These, dass die Frauenbewegung in Deutschland so konservativ gewesen sei, weil sie sehr stark auf Geschlechterdifferenz gesetzt hätte – also auf die Idee, dass Männer und Frauen sehr unterschiedlich sind. Nur: Das haben die Engländerinnen, die Französinnen, die Spanierinnen und die Schwedinnen genauso gemacht. Das 19. Jahrhundert war nun einmal ein Jahrhundert, in dem die Geschlechterdifferenz ins Extrem gesteigert wurde.
Standen Frauenrechtlerinnen damals eigentlich in der Öffentlichkeit? Gab es ein Interesse an ihnen?
Auf jeden Fall! 1904 gab es einen großen internationalen Kongress in Berlin, auf dem sich der Weltverband der Frauen traf. Berlin muss völlig von Frauen geflutet gewesen sein! (lacht) Über 1000 Frauen reisten an und jede Zeitung berichtete über diesen Kongress, über die Forderungen und darüber, dass es in allen europäischen Ländern eine Frauenbewegung gibt. Die illustrierte Presse gab ein kleines Fotobüchlein über die nationalen und internationalen Frauenrechtlerinnen heraus – das war sehr entscheidend. Allgemein war zwischen 1880 und 1914 die Hochphase der Frauenbewegung. Da wurde sie immer wichtiger und war aus der Öffentlichkeit nicht mehr wegzudenken.
Feministinnen, so lautet heute ein oft gehörter Vorwurf, streiten zu viel untereinander. Tatsächlich gab es auch um das Wahlrecht damals Streit. Wie sah der aus?
So richtig los ging es 1908. Das war ein entscheidendes Jahr für Deutschland, weil Frauen nun Mitglieder in Parteien werden durften. So begann die Frauenwahlrechtsbewegung, sich intensiv mit dem Frauenwahlrecht zu beschäftigen. Und stellte fest: Im Deutschen Reich gab es zu dieser Zeit nicht nur ein Wahlrecht. In Preußen beispielsweise galt ein Dreiklassenwahlrecht: wahlberechtigte Männer wurden in drei Steuerklassen eingeteilt, und jede dieser Steuerklassen wählte eine bestimmte Anzahl von Wahlmännern. Preußische Frauenrechtlerinnen hatten deshalb ein Problem: Wenn sie sofort das freie und gleiche Wahlrecht fordern würden, so wie andere Frauen in der Bewegung, würden sie ja mehr fordern, als das, was die Männer hätten.
War das denn generell eine Forderung, die es gab: Die nach dem freien und gleichen Wahlrecht?
Die einzige politische Partei, die das zu diesem Zeitpunkt forderte, war die SPD. Das heißt, sobald Sie den Mund aufmachten, um das freie, gleiche Wahlrecht zu fordern, war klar: Sie sind Sozialdemokratin. (lacht) Die Frauen in Preußen beschlossen, strategisch vorzugehen und zunächst nur das gleiche Recht zu fordern wie die Männer. Für andere Frauenrechtlerinnen kam das gar nicht in Frage, sie wollten das freie Wahlrecht für alle. Wiederum anderen war egal, was mit den Männern war – sie wollten das Wahlrecht für Frauen. Und dann gab es noch die Sozialdemokratinnen, die sagten: Ist uns egal, was die Bürgerlichen machen, wir fordern das Wahlrecht für die Arbeiterin, denn die ist die Einzige, die es wirklich nötig hat, weil sie als Klasse und als Geschlecht unterdrückt ist. Das Ergebnis war, dass es in Deutschland drei verschiedene Frauenstimmrechtsvereine gab. Wenn man politisch vorgehen muss, und das mussten die Frauen damals ja, dann muss man sich ja auch mit den Vorurteilen und Urteilen seiner Zeit sehr genau auskennen.
Sie weisen immer wieder darauf hin, dass die Frauenbewegung als historisch wandelbar betrachtet werden sollte. Warum ist das so wichtig?
Es geht darum, die Frauenrechtlerinnen als Kinder ihrer Zeit zu begreifen. Überlegen Sie sich mal, Sie würden einem Menschen aus dem 18. Jahrhundert etwas über Datenschutz erklären wollen. Das dürfte sehr schwierig werden – und genauso ist es für Frauenrechtlerinnen im 19. Jahrhundert. Die werden manchmal von heutigen Feministinnen mit Dingen konfrontiert, die für ihre Gesamtgesellschaft damals noch überhaupt nicht denkbar waren. Oft heißt es zum Beispiel: Ist die Frauenbewegung nicht antisemitisch gewesen? Natürlich war sie das, genauso wie die Gesellschaft, in der sie lebte! Dabei gab es auch Abstufungen, es gab Frauenrechtlerinnen, die offen antisemitisch waren, aber auch welche, die ganz selbstverständlich mit Jüdinnen zusammenarbeiteten und sich dem Antisemitismus entgegenstellten. Man muss den damaligen Erfahrungshorizont der Frauen berücksichtigen und versuchen, ein bestimmtes Verhalten zu verstehen – das heißt nicht, dass man es entschuldigen muss. Wir müssen uns heute ja auch selber fragen, wo unsere blinden Flecken sind. Ich plädiere also immer dafür, etwas großzügiger zu sein.
Was können heutige Frauenrechtlerinnen von ihren historischen Vorkämpferinnen lernen?
Ich glaube, was wir alle aus der Geschichte lernen können, ist: Man braucht einen langen Atem. Es geht nicht über Nacht. Wenn man sich anschaut, wie lange die Frauenrechtlerinnen auf das Frauenwahlrecht hingearbeitet haben! Die ersten Forderungen kamen 1848 auf. Spätestens ab 1896 war das Thema dann in der Frauenbewegung und bis zur tatsächlichen Einführung des Frauenwahlrechts 1918 dauerte es dann noch einmal über 20 Jahre. Die Devise lautet also: Dranbleiben und nicht aufgeben.
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