50 Jahre Seeheimer Kreis: „Nicht jedem gefällt, dass wir regieren wollen“
Vor 50 Jahren wurde der Seeheimer Kreis innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion gegründet. Im Interview sagen die drei Sprecher*innen Uwe Schmidt, Marja-Liisa Völlers und Dirk Wiese, was die Seeheimer auszeichnet, wie sie sich verändert haben und warum an Vorurteilen nichts dran ist.
Dirk Bleicker | vorwärts
Die Lebensrealität der Menschen im Blick: Seeheimer-Sprecher*innen Dirk Wiese, Marja-Liisa Völlers und Uwe Schmidt (v.l.)
Was bedeutet es für Sie, Seeheimerin bzw. Seeheimer zu sein?
Marja-Liisa Völlers: Seeheimerin zu sein, bedeutet für mich, konstruktive Politik zu machen, bei der die Menschen und ihre Interessen klar im Mittelpunkt stehen. Als Seeheimer Kreis verfolgen wir stets einen realistischen Politikansatz. Das sagt mir sehr zu.
Uwe Schmidt: Als Seeheimer haben wir immer die Lebensrealität der Menschen im Blick. Das ist Grundlage unserer Art, Politik zu machen, auf der wir pragmatische Lösungen für die Probleme im Land finden. Dieser Pragmatismus zeichnet uns aus und ist der Grund für mich, Seeheimer zu sein. Nicht lange schnacken, machen!
Dirk Wiese: Für mich bedeutet Seeheimer zu sein, nicht in der Opposition Recht zu haben, sondern in der Regierung Verantwortung zu übernehmen. Das treibt mich an. Historisch ist der Seeheimer Kreis ja entstanden, um die Politik von Bundeskanzler Helmut Schmidt zu stützen. Es zeichnet uns bis heute aus, dass wir verändern und gestalten wollen. Dafür muss es immer das Ziel der SPD sein, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Wenn man sich ansieht, wer schon alles Mitglied im Seeheimer Kreis war – Annemarie Renger, Hans-Jochen Vogel oder Gesine Schwan etwa – macht das natürlich auch stolz.
Wie sind Sie Seeheimerin bzw. Seeheimer geworden?
Völlers: Als ich 2017 in den Bundestag nachgerückt bin, bin ich Mitglied bei der Parlamentarischen Linken geworden – weil ich dort bereits einige Abgeordnete kannte und das Gefühl hatte, dort würde es auch inhaltlich für mich passen. Ich habe dann aber über die ersten Jahre im Parlament gemerkt, dass die politische Ausrichtung nicht so richtig meine ist. Deshalb bin ich dann zum Seeheimer Kreis gewechselt und fühle mich hier auch sehr wohl. Ich empfehle deshalb immer allen neuen Abgeordneten, sich nicht sofort zu entscheiden, sondern sich erstmal alle Strömungen anzusehen und sich dann für die zu entscheiden, die am besten zu einem passt.
Schmidt: Für mich stand von Anfang an fest, dass ich zu den Seeheimer gehe als ich 2017 in den Bundestag gekommen bin. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass ich mich schon während des Wahlkampfs sehr gut betreut und aufgehoben gefühlt habe. Aber auch der pragmatische und realitätsbezogene Ansatz der Seeheimer hat mich von Anfang an überzeugt. Er hat meiner Arbeit als Betriebsratsvorsitzender in Bremerhaven auch sehr entsprochen.
Wie war es bei Ihnen als „Dienstältester“ der drei hier versammelten Abgeordneten, Herr Wiese?
Wiese: Auch ich bin nach meinem Einzug in den Bundestag 2013 direkt zu den Seeheimern gekommen. Das liegt wahrscheinlich auch daran, dass ich nicht über die Jusos in die Politik gekommen bin, sondern über die Kommunalpolitik. Mein erstes politisches Amt war sachkundiger Bürger im Forst- und Umweltausschuss. Über die Sozialisation in der Kommunalpolitik war der pragmatische Politikansatz von Anfang an gegeben. Deshalb habe ich mich beim Seeheimer Kreis gleich gut aufgehoben gefühlt.
Die Seeheimer haben nicht den besten Ruf in der SPD. Woher kommt das?
Wiese: Da hat sich über die Jahre sicher ein Mythos gebildet, der durchaus mit unserem pragmatischen Ansatz, Politik zu machen, zu tun hat. Nicht jedem gefällt es, dass wir regieren wollen. Das hat sich nicht zuletzt in den Debatten über die großen Koalitionen gezeigt. Ich denke aber, in den letzten Jahren hat sich sehr viel gewandelt, was sicher auch mit uns dreien als Sprecher zu tun hat. Ich kann voller Überzeugung sagen, dass an den Vorurteilen, die manche gegenüber uns haben, nichts dran ist. Nicht umsonst sind wir mit 96 Abgeordneten die mit Abstand größte Strömung innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion.
Ärgern Sie die Vorurteile, die es gegenüber den Seeheimern gibt?
Völlers: Ich persönlich erhalte kaum negative Reaktionen darauf, dass ich Seeheimerin bin. Als ich Sprecherin geworden bin, gab es ein, zwei kritische Kommentare im Wahlkreis. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Vorurteile am besten abbauen lassen, wenn man unseren Politik-Ansatz erklärt.
Schmidt: Natürlich gibt es bei dem einen oder anderen persönliche Befindlichkeiten. Den Seeheimern böse Absichten zu unterstellen, geht aber völlig an der Wirklichkeit vorbei. Wir sind nicht die alten Männer, die in grauen Anzügen Zigarre rauchend irgendetwas auskungeln. Ich glaube auch kaum, dass wir sonst attraktiv für so viele Abgeordnete wären. Es haben ja auch sehr viele Junge nach der letzten Wahl den Weg zu uns gefunden. Dadurch sind wir eine wirklich bunte Truppe geworden, was mich sehr freut. Am Ende sind wir alle Sozialdemokraten. Das sollten wir nie vergessen.
Seit der Bundestagswahl 2021 sind die Seeheimer die mit Abstand größte Gruppe innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion neben Parlamentarischer Linken (PL) und den Netzwerkern. Verändert das etwas?
Wiese: Die größte Gruppe zu sein, bedeutet ein Mehr an Verantwortung, ganz klar. Das bedeutet nicht, jeden Tag auf den Tisch zu hauen. Unser Ziel ist, dass die SPD in der Regierung funktioniert. Dabei spielen wir mit 96 Abgeordneten natürlich eine wichtige Rolle. Aber auch unsere inhaltliche Arbeit verändert sich natürlich dadurch. Wir bieten auch regelmäßig Hintergrundgespräche zu den verschiedensten Themen an und laden in jeder Sitzungswoche zu unserem Mittagstisch mit hochrangingen Experten ein. Daneben gibt es auch weiterhin die besten Feten beim Seeheimer Kreis. Geselligkeit ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil unserer politischen Arbeit.
Wie ist das Verhältnis der Seeheimer zu den beiden anderen Gruppen innerhalb der Fraktion?
Wiese: Die größte Differenz zwischen dem Sprecher der PL, Matthias Miersch, und mir ist der Fußball: Er ist Bayern-Fan, ich Dortmund-Fan.
Völlers: Ich war gerade erst spontan mit Wiebke Esdar, der Sprecherin der PL, Mittag essen. Wir stehen alle in einem sehr guten Austausch. Sowohl in der PL als auch bei den Netzwerkern gibt es viele Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich gerne zusammenarbeite. Ansonsten gilt, was Uwe schon gesagt hat: Wir sind alle Sozialdemokraten.
Schmidt: So ist es! Am Ende geht es darum, gemeinsam die richtigen Entscheidungen zu treffen – zum Wohle der Menschen.
Sie sind die drei gleichberechtigen Sprecher*innen der Seeheimer. Wie sieht die Aufgabenteilung aus?
Schmidt: Ich kümmere mich meist um organisatorische Fragen. Organisation ist für uns sehr wichtig, weil wir ja unseren Abgeordneten auch ein gewisses Serviceangebot machen. Das reicht vom Kaffee in unserer Geschäftsstelle während der Sitzungswochen bis zur Unterstützung bei der Wohnungssuche in Berlin. Bevor ich Abgeordneter geworden bin, habe ich viele Jahre große Betriebsratsgremien organisiert. Diese Erfahrung kann ich nun bei den Seeheimern gut einbringen.
Völlers: Meine inhaltlichen Schwerpunkte liegen vor allem im Bereich der Außen- und der Sicherheitspolitik. Die bringe ich auch in meine Arbeit bei den Seeheimern ein, etwa bei den inhaltlichen Mittagstischen oder den Frühstücken, die wir während der Sitzungswochen anbieten. Wir drei Sprecher vertreten uns aber auch fließend. Jeder von uns hat ja gerade während der Sitzungswochen einen sehr vollen Kalender. Da ist es schon sinnvoll, zu schauen, wer gerade welchen Termin übernehmen kann.
Wiese: Dabei erweitern wir den Kreis aber auch regelmäßig über uns drei hinaus. Wir bieten ja auch Fachgespräche an, wo natürlich diejenigen die Verantwortung übernehmen, die auch in den Fachausschüssen sitzen und die jeweilige Expertise mitbringen.
Sichtbares Ergebnis sind die Positionspapiere, die der Seeheimer Kreis inzwischen regelmäßig zu ganz verschiedenen Themen veröffentlicht. Früher haben Sie das nicht gemacht. Wie kam es zu dieser Veränderung?
Wiese: Auch früher hat sich der Seeheimer Kreis öffentlich positioniert, uns war es aber wichtig, dass wir uns in manchen Debatten noch deutlicher zu Wort melden, etwa in Steuerfragen, zur Außenpolitik oder zur inneren Sicherheit. Es gab aber auch schon Papiere zu Themen, wo das von uns vermutlich kaum jemand erwartet hätte, in Migrationsfragen zum Beispiel. Auch hier profitieren wir natürlich sehr davon, dass wir mit vielen Abgeordneten inhaltlich breit aufgestellt sind. Eins ist aber bei allen Papieren wichtig: Sie dürfen nicht so lang sein, damit sie auch gelesen werden.
Die Seeheimer werden gern als konservativ bezeichnet. Sie selbst sehen sich als pragmatisch. Warum?
Völlers: Weil die SPD keine konservative Partei ist. Natürlich wollen wir auch Dinge, die gut laufen, weiterführen. Vor allem aber wollen wir in die Zukunft gerichtet agieren. Nur bewahren zu wollen, was gerade ist, wird der Zukunft unseres Landes nicht gerecht.
Seeheimer*in kann werden, wer Mitglied im Bundestag ist. Dabei bleibt es auch künftig, oder?
Wiese: Ja. Es gibt allerdings auch den Seeheimer-Freundeskreis für Menschen, die sich uns verbunden fühlen. Die Mitgliedschaft ist übrigens kostenlos. Gerade der Austausch mit den ehemaligen Mitgliedern ist für viele Kollegen eine große Bereicherung. Deshalb ist es uns wichtig, dass der Kontakt weiter bestehen bleibt, auch wenn manche schon viele Jahre nicht mehr Mitglied des Bundestags sind.
Das Gründungsdatum selbst ist erst im Dezember. Sie feiern aber schon jetzt das 50-jährige Bestehen der Seeheimer mit verschiedenen Veranstaltungen. Was ist geplant?
Wiese: Die offizielle Geburtstagsfete findet an diesem Dienstag in Berlin statt, mit dem Bundeskanzler, dem Bundeswirtschafts- und-finanzminister sowie weiteren Kabinettsmitgliedern. Auch der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich werden dabei sein sowie auch viele ehemalige Mitglieder des Seeheimer Kreises. Zudem wird unsere diesjährige Klausurtagung in wenigen Wochen am Gründungsort der Seeheimer in Seeheim-Jugenheim stattfinden. Back to the roots!
Die Seeheimer werden in diesem Jahr 50 Jahre alt. Die SPD hat im vergangenen Jahr ihren 160. Geburtstag gefeiert. Was wünschen Sie den beiden?
Völlers: Der SPD wünsche ich gute Ergebnisse bei den Wahlen, die in diesem Jahr anstehen – sowohl bei der Europawahl als auch bei den Landtagswahlen, damit sie weiter gestalten kann.
Schmidt: Die Sozialdemokratie wird gebraucht. Das wird gerade in diesen Tagen wieder mal mehr als deutlich. Wir bieten gute Lösungen an und ich wünsche uns allen, dass wir die anstehenden Veränderungen auch über die Bundestagswahl 2025 hinaus als Kanzlerpartei mitgestalten.
Wiese: Wenn die SPD im 51. Jahr des Bestehens der Seeheimer die Bundestagswahl gewinnt, bin ich zufrieden.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.
Moment mal, der Seeheimer…
Moment mal, der Seeheimer Kreis ist doch ein RECHTER Parteilügel. Hat man den beim "Kampf gegen rechts" bisher übersehen? Gerade in der heutigen Zeit ist es doch so wichtig Haltung zu zeigen und Zeichen gegen rechts zu setzen. Eine Auflösung dieses rechten Kreises wäre wohl das Mindeste. Auch über Parteiausschlussverfahren sollte nachgedacht werden, wenn sich die Mitglieder nicht voll und ganz von ihrer rechten Gesinnung distanzieren.
pragmatisch
Wie Sie im Interview nachlesen können, sieht sich der Seeheimer Kreis als pragmatisch.
Seit wann ist denn die…
Seit wann ist denn die Eigenwahrnehmung ausschlaggebend? In der Öffentlichkeit wird er eben als rechter Parteiflügel wahrgenommen. So steht es auch in Wikipedia.
ich sehe das ähnlich, im Kampf gegen Rechts
darf es keine Relativierungen geben, allerdings ist es auch richtig, die noch unzureichende Kraft erstmal auf ganz Rechts zu konzentrieren, also FDP, CDU usw....
Sobald das erledigt ist, kann man sich den Seeheimern zuwenden, und sie für unsere Linke zu gewinnen trachten bzw umzuschulen