Gesine Schwan: „Wir müssen wieder wirklich Volkspartei werden“
Die SPD will ein neues Grundsatzprogramm erarbeiten. Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, erklärt, welche Themen ihr dabei wichtig sind und auf welchen anderen Punkt es für den künftigen Erfolg der Partei noch ankommt.
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Gesine Schwan auf dem SPD-Bundesparteitag 2025 in Berlin: Im Moment erkennt man bei wichtigen Repräsentanten der SPD noch nicht, wofür sie wirklich brennen.
Die SPD gilt als „Programmpartei“. Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang, dass sie ein Grundsatzprogramm hat?
Ganz allgemein gesagt sind eher linke Parteien Programmparteien, weil sie im Gegensatz zu konservativen Parteien etwas verändern wollen. Dafür müssen sie sich überlegen, was sie ändern möchten, wie sie das begründen und wie sie Mitstreiter gewinnen wollen, um die Veränderungen durchzusetzen. All das müssen Konservative nicht. Die SPD ist also nicht die einzige Programmpartei.
In der Geschichte der SPD auch immer wieder politische Wenden gegeben, die nicht durch das Programm entstanden sind, sondern bei denen das Programm Veränderungen, die sich bereits angekündigt hatten, zusammengefasst und nachvollzogen hat. Typisch hierfür ist zum Beispiel das „Godesberger Programm“ von 1959.
Hat die SPD ein Grundsatzprogramm eher für ihre Mitglieder, für potenzielle Wähler oder als Orientierungsrahmen für die Parteiführung?
Die wichtigste Funktion eines Grundsatzprogramms ist nicht so sehr, Anhänger in der Gesellschaft für die SPD zu finden - denn die gucken meistens nicht nach Programmen, sondern eher nach der ungefähren Ausrichtung und nach attraktiven Persönlichkeiten, die diese Ausrichtung vertreten. Das beste Beispiel bei der SPD war hier sicher Willy Brandt, der die Menschen scharenweise in die Partei gebracht hat. Nützlich ist ein Grundsatzprogramm für den Prozess der Selbstverständigung sowie der Auseinandersetzung und der Klärung von Positionen innerhalb der SPD.
Gesine
Schwan
Nach der verheerenden Niederlage bei der Bundestagswahl haben viele das Gefühl, sich wieder vergegenwärtigen zu müssen, wofür die SPD eigentlich steht.
Auf ihrem Parteitag Ende Juni hat die SPD beschlossen, sich bis 2027 ein neues Grundsatzprogramm zu geben. Halten Sie das für sinnvoll?
Ich finde die Entscheidung, jetzt ein neues Grundsatzprogramm zu entwickeln oder zumindest in kurzer Zeit einige wichtige Punkte zu benennen, verständlich. Nach der verheerenden Niederlage bei der Bundestagswahl haben viele das Gefühl, sich wieder vergegenwärtigen zu müssen, wofür die SPD eigentlich steht. Während der Ampel-Koalition hat die SPD als Stützungsorganisation für die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder funktioniert. Das wird in der Koalition mit der Union aber nicht weiter möglich sein. Zumindest hielte ich es für fatal, wenn das so fortgesetzt würde.
Insofern ist der Grundsatzprogrammprozess auch ambivalent, weil er dazu führen kann, dass die Partei stillgestellt wird und sich nur mit sich selbst beschäftigt. Stattdessen muss es der SPD gelingen, eine sehr kluge, geradezu kunstvolle Kombination von Unterstützung und Eigenständigkeit zwischen Partei- und Regierungsmitgliedern hinzubekommen.
Sie plädieren also für eine Trennung zwischen Regierungs- und Parteiämtern?
Nicht zwingend, aber es macht einen Unterschied, ob die Politikerinnen und Politiker allein als Kabinettsmitglieder in Koalitionsdisziplin wahrgenommen werden oder als Sozialdemokraten, die unabhängig davon von einer inneren Motivation und bestimmten Vorstellungen einer besseren Gesellschaft getrieben sind. Im Moment erkennt man bei wichtigen Repräsentanten der SPD noch nicht, wofür sie wirklich brennen.
Letztlich sind also die Personen wichtiger als das Programm?
Sie sind zumindest genauso wichtig, denn ohne Personen, die attraktiv sind und denen man vertraut, kann eine Partei keinen Erfolg haben. Einem Programm vertraut man nicht, das geht nur über Personen. Auch deshalb befindet sich die SPD, wie unsere Demokratie insgesamt, zurzeit in einer Vertrauenskrise. Das zeigt sich gerade am Fall Frauke Brosius-Gersdorf, wo verlässliche demokratische Verfahren von der CDU missachtet wurden. Die SPD müsste hier aus meiner Sicht inhaltlich offensiver auftreten.
Gesine
Schwan
Profil gewinnt eine Partei vor allem über die handelnden Personen, dass die Menschen also wissen, dass diese auch wirklich für Gerechtigkeit eintreten, zum Beispiel und dass ihr Engagement nicht nur die Eintrittskarte ist, um eine Karriere zu machen.
Von ihrem neuen Grundsatzprogramm verspricht sich die SPD auch eine Schärfung ihres Profils. Kann das aufgehen?
Das sehe ich eher skeptisch, denn das Programm versucht, unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf die konkreten politischen Herausforderungen angemessen anzuwenden. Wenn wir das aber in praktische Politik übersetzen, dann muss es auch ausgewogen sein und das wird das Profil immer etwas „entschärfen“. Profil gewinnt eine Partei aus meiner Sicht vor allem über die handelnden Personen, dass die Menschen also wissen, dass diese auch wirklich für Gerechtigkeit eintreten, und dass ihr Engagement nicht nur die Eintrittskarte ist, um Karriere zu machen.
Das neue Grundsatzprogramm soll in einem breiten Beteiligungsprozess erarbeitet werden, mit den SPD-Mitgliedern, aber auch der Zivilgesellschaft. Wie muss solch ein Prozess organisiert werden, damit am Ende nicht ein Gemischtwarenladen dabei herauskommt?
Diese Gefahr gibt es. Das ist ein bisschen wie bei Koalitionsverträgen, in denen sich jeder wiederfinden muss. Ich habe in meinem Leben eine Reihe von Führungsaufgaben gehabt und es dabei vor allem als meine Aufgabe verstanden, Ziele und Handlungsstrategien zu entwickeln. Dafür musste ich zunächst erstmal Vorschläge machen, auf deren Grundlage dann mit allen diskutiert wurde. Ich denke, so sollte es auch bei der Erarbeitung des Grundsatzprogramms sein, wenn ein gutes Ergebnis aus dem Prozess herauskommen soll, mit dem sich am Ende alle identifizieren können.
Wie werden Sie sich als Grundwertekommission in den Prozess einbringen?
Wir werden ganz sicher Vorschläge machen – und zwar sowohl inhaltliche als auch für das Verfahren. Ganz entscheidend ist natürlich das Thema Frieden, ebenso wie das Thema Migration. Da folgen wir in der Regierung im Moment einer menschlich nicht vertretbaren und strategisch völlig unsinnigen Politik, weil die Union das möchte. Eine Migrationspolitik der Sozialdemokraten muss aber eine gut durchdachte, an ihren Grundwerten orientierte Migrationspolitik sein, die die Interessen der Einheimischen und der Migranten berücksichtigt.
Ein weiterer wichtiger Bereich ist der der Finanzen. Da geht es dann um Steuerfragen und die Schuldenbremse. Und wozu es im Hamburger Programm noch gar nichts gibt, das ist der Bereich der Digitalisierung. Darüber sollten wir auch nicht nur abstrakt diskutieren, sondern praktisch konkret, etwa auch in der Frage, wie die SPD agiler wird und die Mitglieder sich besser austauschen können.
Gesine
Schwan
Ob die SPD eine Volkspartei ist, hängt nicht davon ab, wie viele Wähler sie hat.
Die SPD sieht sich selbst seit dem Godesberger Programm als Volkspartei. Kann davon nach 16,4 Prozent bei der Bundestagswahl noch die Rede sein?
Ob die SPD eine Volkspartei ist, hängt nicht davon ab, wie viele Wähler sie hat. Entscheidend ist, ob sie eine Grundeinstellung hat, nur für eine bestimmte Gruppe oder für die gesamte Bevölkerung Politik zu machen. Godesberg war hier ein Wendepunkt, weil sich die SPD vom Marxismus verabschiedet und gesagt hat, dass sie eine Partei ist, die aus der Inspiration der klassischen Philosophie, des Christentums und des Humanismus ihre Politik formuliert, und zwar für alle Teile der Gesellschaft, die sich dieser Politik anschließen wollen. Insofern sind wir programmatisch Volkspartei, auch wenn es etwas merkwürdig wirken kann, wenn sich das gerade nicht mit hohen Zustimmungswerten verbindet.
Wie kann der SPD das wieder gelingen?
Wir machen seit längerem den Fehler zu glauben, dass wir, um gewählt zu werden, Wahlangebote machen müssen. Etwas mehr Mindestlohn hier, etwas weniger Steuern da. Wenn man solch ein Transaktionsangebot macht, dann ist das ein kommerzielles Verhältnis, das aber kein Vertrauen schafft. Die Menschen wählen dann ganz rational aus, welche Partei ihnen das beste Angebot macht.
Hier müssen wir umdenken und wieder wirklich Volkspartei werden, in diesem Sinne, wie das Godesberger Programm für die gesamte Gesellschaft Grundlinien eines Zukunftsbildes, einer Vision, einer gelungenen Gesellschaft, einer gelungenen Demokratie gezeichnet hat, für die sich die Menschen begeistern können. Ein solches Bild muss auch das neue Grundsatzprogramm entwerfen. Dann lassen sich auch Vertrauen und letztendlich Zustimmung zurückgewinnen.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.
wären wir Volkspartei. Das muss ich energisch zurückweisen, und gleichzeitig darum bitten, den Aussagewert eines Titels vor der Veröffentlichung mal selbstkritisch zu hinterfragen. Ich glaube nicht, dass dies zuviel verlangt ist.
Um Veränderungen erfolgreich umzusetzen braucht es 3 Dinge:
1. Einsicht, dass etwas geändert werden muss. Ausreichende Unterstützung bei den Betroffenen.
2. Eine Vision wohin man möchte, ein langfristiges Bild der Zukunft.
3. Einen Weg um von 1 nach 2 zu kommen. Die Betroffenen sollen ihren Platz auf diesem Weg sehen und annehmen können.
Mehr als die Hälfte der Veränderungen scheitern weil die Notwendigkeit der Veränderung nicht ausreichend akzeptiert ist. Haben wir als SPD den Handlungswillen zu grundlegenden Veränderungen? Ich zweifele, die Dringlichkeit ist nicht erkennbar.
Wie wäre es ein Grundsatzprogramm als „Entwurf“ in 3 Monaten vorzulegen und dann in einer Diskussion gemeinsam weiter zu entwickeln? Wir müssen schnell zum sichtbaren Handeln kommen. Ich bin bereit.
Ich nehme kaum an, dass von dem neuem Grundsatzprogramm am Ende mehr übrig bleibt als vom Hamburger Programm. Das Hamburger Programm blieb weitestgehend unberücksichtigt, weil auch die handelnden Akteure es in vielen entscheidenden Punkten im Grunde ignorierten. Große Veränderungen der Partei durch ein neues Programm zu erwarten, wäre ein Kunstwerk von Herrn Klüssendorf, welches seine Vorbilder noch sucht. Stattdessen glaube ich dass das Programm einige Politikfelder, in denen die SPD entgegen des Hamburger Programms handelte und die abweichende Entwicklungen der Partei in Papierform manifestieren wird. Aus diesem Grund sind viele Jusos gegen diesen Programmprozess und würden lieber Kräfte für einen innerparteilichen Reformprozess und Auseinandersetzungen mit dem Regierungshandeln investieren. Für Veränderung sollte die SPD nicht an ihre Werte des demokratischen Sozialismus rangehen, sondern wieder der Motor dieser Werte im 21.Jahrhundert werden. Darüber sollten wir wieder lauter reden
Entwurf erarbeiten und veröffentlichen, gemeinsam öffentlich diskutieren, Ergebnis veröffentlichen.
Zum einen gilt es, die mit den Godesberger Programm erfolgt Akzeptanz der Adenauerschen Remilitarisierung bis hin zur Beteiligung am War on Terror der USA in Afghanistan, der Nato-Osterweiterung und der jetzt eingeleiteten Hochrüstungspolitik unvoreingenommen auf ihre Zielführung und Nebenwirkungen zu analysieren. Zum andern sollten die vorhandenen Konzeptionen einer friedenslogisch orientierten zivilen Sicherheitspolitik wahrgenommen werden. Für eine verantwortliche Politik bedarf es der Risikoabwägung zwischen der militärischen und einer zivilen Sicherheitspolitik. Ansonsten stimme ich dem vorhergehenden Leserbrief von Gerd Müller mit seinen "drei Dingen" voll zu.
Der Kommentar wurde gelöscht, da er gegen Punkt 6 unserer Netiquette verstieß.
https://www.vorwaerts.de/netiquette
bei wichtigen Repräsentanten der SPD noch nicht, wofür sie wirklich brennen“.
Kein schmeichelhafter Satz von Frau Schwan – aber er ist falsch. „Wichtige Repräsentanten der SPD“ sind vermutlich Pistorius und Klingbeil.
Wofür die Beiden „wirklich brennen“, hat - sprachlich etwas verbrämt - Miersch, vielleicht auch „Repräsentant der SPD“, so ausgedrückt:
„Die Sondervermögen für Infrastruktur und Verteidigung etwa, ... Das sind ursozialdemokratische Themen. Und die werden von den Menschen auch mit der SPD verbunden“ (Vorwärts, 7.7.25). Hinter dem in der Höhe unbegrenzten „Sondervermögen für Verteidigung“ steckt die „Kriegstauglichkeit“ (Pistorius), die ihre Berechtigung herleitet aus dem Krieg, mit dem uns Putin „großmaßstäblich“
bis 2029 überziehen wird (können). Beide scheinen auch mit Ruttes peognostizierten „Doppelangriff durch Russland und China“ (Berliner Zeitung, 7.7.25) auf die Nato einverstanden zu sein.
Wir wissen, wofür „wichtige Repräsentanten der SPD wirklich brennen.
Der Kommentar wurde gelöscht, da er gegen Punkt 6 unserer Netiquette verstieß.
https://www.vorwaerts.de/netiquette
die eine Erzählung ist, nicht mehr und nicht weniger.
Gesine Schwan bemängelt an der gegenwärtigen Lage, dass „sich die SPD, wie unsere Demokratie insgesamt, zurzeit auch deshalb in einer Vertrauenskrise befindet“, weil man weder dem Programm noch den Personen der SPD vertraut. Da ist leider was dran. Vielleicht kann sie ja mithelfen, ein Programm zu schaffen, das „unsere Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ verbindet mit „der klassischen Philosophie, dem Christentums und dem Humanismus“. Es sollte aber nicht „Europa als Friedensprojekt“ (Wolff, 16.6.25) fehlen. Die „EU zu einem von den USA, Russland und China unabhängigen Staatenverbund auszubauen“ (Wolff, 4.7.25) ist ebenfalls erstrebenswert.
Das Konzept der gemeinsamen Sicherheit in Europa muss das außenpolitische Fundament eines neuen Programms bilden.
Vielleich etwas abgehoben: Angesichts des Klimawandels sollte das Konzept der gemeinsamen Sicherheit in der Welt keine weltfremde Utopie sein.