Staatskrise in Südkorea: Eine Reifeprüfung für die Demokratie
Mit der Ausrufung des Kriegsrechts greift Präsident Yoon Suk-yeol Südkoreas Demokratie an. Die kann sich wehren – doch der Schaden ist enorm.
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Tausende Menschen demonstrieren in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, der in dieser Woche das Kriegsrecht ausgerufen hatte.
In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember erlebte die südkoreanische Demokratie vermutlich ihre bisher schwerste Prüfung – und zeigte sich wehrhaft. Der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol schickte die viertgrößte Volkswirtschaft Asiens mit der Ausrufung des Kriegsrechts in eine chaotische Situation, an deren Ende das Kriegsrecht wieder aufgehoben wurde, der Präsident aber deutlich geschwächt dasteht, eine Phase der Unsicherheit folgen dürfte und hierdurch ein Schaden für Südkorea entstanden ist. Am Ende obsiegte die parlamentarische Demokratie, was insbesondere dem entschlossenen Handeln von Abgeordneten und Demonstrierenden zu verdanken war.
Erste Ausrufung des Kriegsrechts seit 1980
Das letzte Mal galt 1980 das Kriegsrecht, damals noch unter der Militärdiktatur und im Zusammenhang mit der Niederschlagung der südkoreanischen Demokratiebewegung im Zuge des Gwangju-Aufstands. Die hunderten Todesopfer von damals sind als nationales Trauma in Korea weiter sehr präsent. 44 Jahre später ist die Begründung von Yoon Suk-yeol für die erneute Ausrufung des Kriegsrechts weit hergeholt. Dazu fantasierte er antistaatliche Akteure und pro-nordkoreanische Kräfte herbei, die das Wohl des Landes gefährdeten, und erklärte das Parlament zu einem Monster, das gesäubert werden müsse. Yoon bediente sich dabei eines antikommunistischen Narratives, das in Südkorea in den vergangenen Jahrzehnten häufig genutzt wurde, um liberal-progressive Kräfte zu diffamieren.
Politiker*innen der Opposition reagierten prompt auf einen nächtlichen Aufruf der Führung der sozialliberalen Demokratischen Partei und versammelten sich im Parlament, um gegen das Kriegsrecht zu stimmen. Dramatische Szenen zeigten Oppositionsführer Lee Jae-myung, wie er über den Zaun des Parlamentsgeländes kletterte, um Zugang zum Gebäude zu erhalten. Alle 190 anwesenden der insgesamt 300 Abgeordneten, einschließlich die aus Yoons eigener konservativer Partei, stimmten für die Aufhebung des Kriegsrechts, obwohl Soldaten im Parlamentsgebäude präsent waren. Nur sechs Stunden, nachdem er die Staatskrise mit seiner Erklärung ausgelöst hatte, hob Yoon Suk-yeol das Kriegsrecht nach dem Parlamentsbeschluss wieder auf.
Staatskrise endet nach sechs Stunden
Noch in der Nacht stellten sich weitere Parteifreund*innen von Präsident Yoons gegen ihn, darunter der Vorsitzende der People Power Party, Han Dong-hoon. Enge Vertraute distanzierten sich, mehrere Berater traten zurück. Zeitgleich protestierten Bürger*innen bei eisigen Temperaturen vor dem Parlament und setzten damit ein starkes Zeichen für Demokratie. Der Gewerkschaftsdachverband KCTU rief zum Generalstreik auf, bis Yoon zurücktritt. Der Präsident sieht sich nun einem möglichen Amtsenthebungsverfahren und Anzeigen wegen Landesverrats ausgesetzt. Auch weiteren Beteiligten drohen Konsequenzen, Verteidigungsminister Kim Yong-hyun ist mittlerweile zurückgetreten, ihm sowie dem ehemaligen Innenminister und dem Armeechef drohen ebenfalls Anklagen wegen Landesverrats.
Yoons drastischer Schritt lässt sich rational kaum vollständig erklären. Wahrscheinlich waren innenpolitische Entwicklungen, gepaart mit der extremen Polarisierung Südkoreas, ausschlaggebend. Diese Spaltung erschwert es den beiden großen politischen Lagern, Kompromisse zu finden, und stellt eine zentrale Herausforderung für die südkoreanische Demokratie dar. Nach der schweren Niederlage der Regierungspartei People Power Party bei den Parlamentswahlen im April konnte die sozialliberale Opposition ihre Mehrheit ausbauen. Yoon regiert im Grunde seit seiner Amtseinführung 2022 als „lame duck“, da seine Partei schon in der vorangegangenen Legislaturperiode keine eigene Parlamentsmehrheit hatte. Die Präsidentschaftswahl selbst hatte er nur äußerst knapp mit nur 0,8 Prozentpunkten Vorsprung gewonnen; seither regiert er im Wesentlichen, indem er seine Vetomacht einsetzt.
Niedrige Beliebtheit und Korruptionsvorwürfe
In seiner Partei ist er umstritten, dazu hat er sehr niedrige Beliebtheitswerte und steht zudem persönlich unter Druck, unter anderem aufgrund von Korruptionsvorwürfe gegen seine Frau. Korruptionsfälle in Korea sind unabhängig der Parteizugehörigkeit keine Seltenheit. Dennoch sah er sich vor Kurzem genötigt, sich öffentlich zu entschuldigen. Die Opposition nutzt ihre parlamentarische Mehrheit immer wieder dazu, Vorhaben der Regierung zu blockieren, Impeachmentverfahren gegen Regierungsmitglieder anzustrengen und zuletzt um Budgetkürzungen vorzunehmen. Letzteres war wohl einer der Auslöser für die verzweifelte Ausrufung des Kriegsrechts durch Yoon.
Die Regierung Yoon fiel bereits zuvor durch eine konfrontative Politik gegenüber Gewerkschaften und progressiven zivilgesellschaftlichen Akteuren, eine Anti-Gender-Politik auf. Seine harte Haltung gegenüber Nordkorea erschwert jegliche Form der Entspannung. Zudem verschlechterte sich die Pressefreiheit erheblich: Südkorea fiel im Ranking von Reporter ohne Grenzen auf Platz 62. Yoon griff Kritiker*innen häufig mit vagen Behauptungen an, sie seien Unterstützer Nordkoreas oder antistaatliche Kräfte, und nutzte diese Anschuldigungen, um legitime Opposition und zivilgesellschaftliche Kritik zu delegitimieren.
Anti-Gender-Politik und niedrigere Pressefreiheit
Yoon hatte in den vergangenen Jahren viel in die internationale Reputation Südkoreas investiert. Er wollte das Land als stabilen Partner präsentieren. Seine außenpolitische Agenda, Südkorea zu einem Pivotal State im Indopazifik zu machen – eingebunden in die westliche Staatengemeinschaft und inklusive einer historischen Kooperation mit Japan – wurde positiv aufgenommen. Diese Reputation hat nun Risse bekommen. Die Ausrufung des Kriegsrechts traf internationale Partner unerwartet und verursachte diplomatischen Schaden. Regierungen, darunter auch Deutschland, äußerten Besorgnis über die Entwicklungen. Schweden sagte den geplanten Besuch seines Premierministers ab, und die USA verschoben Treffen der Nuclear Consultative Group, einer Arbeitsgruppe, die Südkorea eine stärkere Einbindung in die nukleare Planungsstrategie für die koreanische Halbinsel ermöglichen soll.
Auch wirtschaftlich hinterließ die Ausrufung des Kriegsrechts Spuren. Der Koreanische Won verlor an Wert gegenüber dem US-Dollar. Die mächtigen koreanischen Unternehmenskonglomerate (Chaebols) fürchten die drohende Instabilität, internationale Unternehmen äußerten sich besorgt. Die Nationalbank sah sich gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, um die Märkte zu beruhigen und das Vertrauen wiederherzustellen.
Herausforderungen durch Trumps Wiederwahl
Mit den bevorstehenden politischen Entwicklungen dürfte Südkorea in einer entscheidenden Phase der globalen Politik innenpolitisch stark mit sich selber beschäftigt sein, während Donald Trump seine zweite Amtszeit antritt. Trump hatte bereits in der Vergangenheit gefordert, Südkorea solle für die Stationierung der 28 000 US-Soldaten und den nuklearen Schutzschirm einen deutlich höheren Beitrag leisten. Zudem dürfte er eine härtere Haltung gegenüber China verlangen, was angesichts seiner wirtschaftlichen Verflechtungen kaum in Südkoreas Interessen liegen dürfte. Das Land strebt seit jeher eine Balance in seinen Beziehungen zu den USA und China an, unter Yoon gab es eine deutlich stärkere Bindung an die USA, allerdings gab es zuletzt auch positive Signale Richtung China. Während das Land dringend Stabilität und Planungssicherheit braucht, droht politische Unsicherheit.
Obwohl Präsident Yoon als Begründung für die Ausrufung des Kriegsrechts pro-nordkoreanische Kräfte anführte, betonte er, dass sich durch diesen Schritt außenpolitisch nichts ändere. Dennoch spielt die innenpolitische Konfusion in Südkorea Kim Jong-un in die Hände. Bisher hält sich Nordkorea mit Äußerungen zurück. Jedoch schöpfte Südkorea gerade aus der Tatsache politisches Gewicht, eine stabile, prosperierende Demokratie und ein international verlässlicher Partner zu sein. Zwar zeigte sich die Demokratie wehrhaft, dennoch hat das Bild Risse bekommen, die Kim Jong-un auszunutzen wird.
Beziehungen zu Nordkorea auf Tiefpunkt
Die Beziehungen zwischen Nord- und Südkorea befinden sich derzeit auf einem Tiefpunkt und die Gefahr eines nicht-intendierten militärischen Konflikts ist so hoch wie lange nicht. Eine Phase der politischen Unsicherheit stellt nicht zuletzt auch ein Sicherheitsrisiko dar. Derzeit sind alle Hoffnungen auf eine Wiederannäherung zwischen Nord- und Südkorea, die sich offiziell weiterhin im Krieg miteinander befinden, begraben. Das wird durch einige Schlaglichter in den vergangenen Jahren deutlich.
So ist Pjöngjang seit seiner vertieften Militärkooperation mit Russland und der Unterstützung des russischen Angriffskrieges in einer deutlich besseren strategischen Position als noch vor zwei Jahren. Bereits zuvor hatte Nordkorea seit den erfolglosen Gipfeln von Kim Jong-un und Donald Trump in Hanoi und Singapur 2018-2019 seinen strategischen Fokus auf die Stärkung seines militärischen Potenzials und vor allem seines Atomwaffenarsenals gelegt. De facto ist das Land schon lange eine Nuklearmacht. Allein im Zeitraum vom Anfang 2022 bis Mitte 2023 wurden mehr als 100 Tests ballistischer Raketen durchgeführt.
Schwersten Test seit den 80er-Jahren bestanden
Einen Tiefpunkt erreichten die innerkoreanischen Beziehungen Anfang 2024, als Kim Jong-un Südkorea zum Hauptfeind erklärte und Abstand vom Wiedervereinigungsziel nahm, alle interkoreanischen Institutionen auflöste und Verbindungswege und Brücken abreißen ließ. Dabei gab es zuvor ernsthafte Bemühungen zur Entspannung noch unter der südkoreanischen Vorgängerregierung Moon Jae-in, die allerdings scheiterten. Südkorea zog Anfang 2020 seine Vertreter*innen aus dem Joint Liaison Office zurück, welches erst 2018 errichtet worden war und letztlich von Nordkorea im Juni 2020 in die Luft gesprengt wurde. Die härtere Politik der Yoon-Regierung trug ebenfalls nicht zur Entspannung bei. Die südkoreanische Regierung unter Yoon Suk-yeol hat den Entspannungskurs der Vorgängerregierung aufgekündigt und ihrerseits ebenfalls stark aufgerüstet. Zwar gibt es Gesprächsangebote, allerdings nur bei vorheriger Zusicherung, dass der Norden Schritte zur Denuklearisierung unternehme.
Die südkoreanische Demokratie hat vermutlich ihren schwersten Test seit der Demokratisierung Ende der 1980er Jahre bestanden. Doch nun gilt es, dass der folgende Prozess in geordneten Bahnen abläuft. Ein Impeachmentverfahren ist das wahrscheinlichste Szenario. Einen entsprechenden Antrag haben die Oppositionsparteien gemeinsam eingereicht. Der parlamentarische und auch der öffentliche Druck dürften steigen. Ein Amtsenthebungsverfahren muss das Parlament mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Es ist also notwendig, dass auch mindestens acht Mitglieder der Regierungspartei dem Antrag zustimmen. Dies scheint trotz der Ablehnung einer Amtsenthebung seitens der Parteiführung der Regierungspartei nicht ausgeschlossen.
Kommt ein Amtsenthebungsverfahren?
Anschließend hat das Verfassungsgericht 180 Tage Zeit, die Entscheidung zu prüfen und der Amtsenthebung zuzustimmen. Sechs von neun Richterstimmen sind hierzu notwendig. Derzeit sind aber nicht alle Richterstellen besetzt und müssen möglicherweise zunächst neu ernannt werden. Erst nach der Zustimmung des Verfassungsgerichts ruhen die Befugnisse des Präsidenten und der Premierminister übernimmt die Vertretung. Die Verfassung sieht eine Neuwahl innerhalb von 60 Tagen nach der Amtsenthebung vor. Es könnte also ein langwieriger Prozess werden.
Deutschland und die Europäische Union haben ein unmittelbares Interesse an einem stabilen und demokratischen Südkorea. Südkorea ist ein wichtiger strategischer Partner. Dies liegt zum einen in den engen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen begründet, hat aber auch eine sicherheitspolitische Dimension. Deutschland ist dem UN Command zur Überwachung des Waffenstillstandsabkommens in Korea beigetreten und hat ein Interesse an einer Entspannung auf der koreanischen Halbinsel und Sicherheit in der Region. Nicht zuletzt zeigt die nordkoreanische Beteiligung am russischen Angriffskrieg in der Ukraine, wie stark die weltweiten Konfliktherde miteinander verflochten sind und sich bedingen. Die südkoreanische Demokratie hat sich als resilient erwiesen. Aber die Herausforderungen sind enorm und Yoon Suk-yeol hat seinem Land mit seiner unrühmlichen und verzweifelten Tat einen zusätzlichen Ballast beschert.
Dieser Text erschien zunächst im IPG-Journal.
leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Südkorea. Zuvor leitete er das FES-Büro in Brasilien.
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