Das Interview führte Alexander Isele.
Yoon Suk-Yeol, der Kandidat der konservativen Partei, hat in Südkorea am 9. März die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Allerdings ganz knapp. Wodurch hatte er letztlich die Nase vorn?
Es war in der Tat ein sehr enges Rennen. Yoon erhielt insgesamt 48,6 Prozent der Stimmen und gewann mit einem hauchdünnen Vorsprung von 0,8 Prozent. Der Gegenkandidat Lee Jae-Myung von der regierenden Demokratischen Partei (DP) kam auf 47,8 Prozent.
Mit Yoon zieht ein politischer Außenseiter ins Präsidentenamt ein. Yoon ist als Staatsanwalt bekannt geworden. Er leitete die Ermittlungen gegen die frühere Präsidentin Park Geun-Hye, die 2017 zur ihrer Amtsenthebung und Verurteilung wegen Korruption führten. 2019 wurde Yoon Generalstaatsanwalt. Nach monatelangem Streit über Ermittlungen gegen Regierungsmitglieder trat Yoon jedoch im März 2021 von seinem Amt zurück. Er schloss sich der konservativen People Power Party (PPP) an, die ihn zu ihrem Kandidaten machte.
Den Wahlkampf haben viele Kommentatoren als den schmutzigsten in der Geschichte des Landes bezeichnet. Yoon und Lee warfen sich gegenseitig Korruption und Machtmissbrauch vor und versuchten mit allen Mitteln, den Gegner zu diskreditieren. Der Ausgang der Wahlen war so knapp, weil es mit der PPP und der DP zwei in etwa gleich starke gefestigte politische Lager gibt. Menschen über 60 Jahre wählen traditionell eher konservativ, während Wählerinnen und Wähler in den 40ern und 50ern eher zur Demokratischen Partei tendieren. Für beide Parteien kam es im Wahlkampf daher darauf an, die Stimmen junger Menschen für sich zu gewinnen. Bei den Wahlen im Jahr 2017 war die Demokratische Partei hier klar im Vorteil. Dieses Mal haben jedoch viele junge Menschen aus Unzufriedenheit mit der Regierung und der regierenden Demokratischen Partei für die konservative Opposition gestimmt.
Woher kommt die Unzufriedenheit der jungen Menschen?
Die wirtschaftliche Situation gestaltet sich für viele junge Menschen immer schwieriger. Besonders problematisch sind die rasant steigenden Mieten und Immobilienpreise, die die Regierung nicht in den Griff bekommen hat. Auch die Jugendarbeitslosigkeit hat weiter zugenommen.
Hinzu kommen tieferliegende Probleme: Südkorea versteht sich eigentlich als Meritokratie. Junge Menschen erleben aber tagtäglich, dass nicht die eigene Leistung entscheidend für das Vorankommen in der Gesellschaft ist, sondern vor allem die familiäre Herkunft und die damit verbundenen Privilegien und persönlichen Netzwerke. Die soziale Mobilität ist stark zurückgegangen. Fast zwei Drittel der Koreanerinnen und Koreaner unter 30 Jahren glauben nicht daran, den sozialen Aufstieg schaffen können. Vor diesem Hintergrund führt der extreme Leistungsdruck der koreanischen Gesellschaft bei vielen jungen Menschen zu Frustration und zu einem generellen Vertrauensverlust in die Politik. Die zahlreichen politischen Skandale in der Regierung und der öffentlichen Verwaltung verstärken diesen Trend.
Feminismus beziehungsweise die Gegenreaktion darauf werden in Südkorea derzeit heiß diskutiert. Inwieweit hat das Thema im Wahlkampf eine Rolle gespielt?
Im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit hinkt Südkorea im internationalen Vergleich weit hinterher. Im Global Gender Gap Index des World Economic Forum belegt Südkorea unter 156 Ländern einen traurigen 102. Rang. Die Beschäftigungsquote von Frauen liegt fast 20 Prozent unter der von Männern. Versuche der Regierung, für mehr Geschlechtergerechtigkeit zu sorgen, haben jedoch zu Widerstand unter jungen Männern geführt, die um ihre traditionellen Privilegien fürchten und auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt zunehmend mit gut ausgebildeten jungen Frauen konkurrieren müssen. Unter jungen Männern ist daher ein sich ausbreitender Anti-Feminismus zu beobachten.
Im Wahlkampf haben Yoon und seine Partei versucht, daraus politisches Kapital zu schlagen. Beispielsweise hat Yoon den Feminismus für die niedrige Geburtenrate in Südkorea verantwortlich gemacht und im Wahlkampf gefordert, das Ministerium für Geschlechtergerechtigkeit und Familie abzuschaffen. Der 36-jährige Parteichef der PPP Lee Jun-Seok ging sogar so weit, Feministinnen mit Terroristen zu vergleichen.
Das Kalkül der PPP ist allerdings nur teilweise aufgegangen. Zwar haben bei den Wahlen fast 60 Prozent der jungen Männer unter 30 für Yoon gestimmt. Gleichzeitig haben die Konservativen mit ihrer Strategie allerdings junge Frauen vergrault. Sie wählten mit fast ebenso großer Mehrheit den Gegenkandidaten Lee Jae-Myung von der DP.
Angesichts des knappen Wahlausgangs sieht sich der neue Präsident nun einer gespaltenen Nation gegenüber. Was sind die drängendsten innenpolitischen Probleme, die er nun angehen muss?
Südkorea ist zwar wirtschaftlich erfolgreich, aber die sozialen Probleme verschärfen sich seit Jahren immer weiter. Die Altersarmut ist mit 43 Prozent mit Abstand die höchste unter allen OECD-Ländern. Die Sozialausgaben bewegen sich dagegen mit 12 Prozent des BIP im unteren Feld. Die sozialen Sicherungssysteme sind unterentwickelt, die Einkommensungleichheit steigt. Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es viele Probleme. Mittlerweile arbeiten etwa 40 Prozent der Erwerbstätigen in irregulären Arbeitsverhältnissen.
Trotzdem kündigte Yoon an, eine neoliberale Wirtschaftspolitik zu verfolgen, die vor allem durch Deregulierung und Entfesselung der Marktkräfte das Wirtschaftswachstum ankurbeln solle. Höhere Sozialausgaben lehnte er im Wahlkampf ab. Es ist daher eher eine Verschlimmerung der sozialen Probleme zu befürchten. Yoons Wirtschaftspolitik dürfte vor allem den mächtigen Großkonzernen zugutekommen. Für die Gewerkschaften brechen hingegen schwierige Zeiten an.
Auch in der Klima- und Energiepolitik hat Yoon einen Kurswechsel angekündigt.
Ja. Den unter Präsident Moon eingeleiteten Ausstieg aus der Kernenergie will er rückgängig machen. Er plant längere Laufzeiten für bestehende Atomkraftwerke und will auch den Stopp zweier im Bau befindlicher Reaktoren, der von Präsident Moon angeordnet worden war, wieder aufheben. Im Hinblick auf den Ausbau erneuerbarer Energien ist Yoon eher zurückhaltend, da er höhere Energiepreise für Unternehmen befürchtet.
Wie hat Südkorea auf die Invasion Russlands in der Ukraine reagiert?
Südkorea hat klar gegen die Invasion Position bezogen. Die Regierung trägt die internationalen Sanktionen gegen Russland mit. Südkorea hat jegliche Transaktionen mit der russischen Zentralbank eingestellt und den Export strategisch wichtiger Güter nach Russland untersagt. Im Wahlkampf hat der Krieg in der Ukraine den Streit zwischen Yoon und Lee über den richtigen Umgang mit Nordkorea befeuert. Während Yoon eine härtere Gangart gegenüber Nordkorea forderte, sprach sich Lee für die Fortsetzung der bisherigen Politik von Präsident Moon aus, die auf Dialog und Verständigung gesetzt hat.
Wird es unter Yoon nun eine Neuausrichtung der Politik gegenüber Nordkorea geben?
Davon ist auszugehen. Yoon hat die Nordkorea-Politik von Präsident Moon schon seit längerem kritisiert. Zwar ist Yoon grundsätzlich zu einem Dialog mit Pjöngjang bereit, er setzt aber vor allem auf Abschreckung. Beispielsweise hat er gefordert, dass Südkorea Kapazitäten für einen Präventivschlag aufbauen müsse. Außerdem befürwortet Yoon die Stationierung zusätzlicher amerikanischer THAAD-Raketenabwehrsysteme, um den Großraum Seoul vor Angriffen aus Nordkorea zu schützen.
Es ist davon auszugehen, dass sich Yoon in seiner Politik gegenüber Nordkorea eng mit den USA abstimmen wird. Yoons Wahlsieg ist in Washington sehr positiv aufgenommen worden, da sich seine außenpolitischen Vorstellungen weitgehend mit denen der USA decken. Nordkorea sieht seine Wahl hingegen kritisch. Die Chancen auf eine Wiederaufnahme des Dialogs zwischen Pjöngjang und Seoul sind mit der Wahl Yoons sicherlich gesunken. Das ist durchaus ein Grund zur Sorge. Denn Dialog ist letztlich der einzige Weg, um den Konflikt auf der koreanischen Halbinsel zu entschärfen.
Was beudetet die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China für Südkorea?
Für Yoon hat die Stärkung der Allianz mit den USA, dem traditionell wichtigsten Verbündeten Südkoreas, oberste Priorität. Seine China-Politik wird er im Schulterschluss mit den USA gestalten. Im Wahlkampf hat Yoon angekündigt, die Indo-Pazifik-Strategie der USA zu unterstützen und in den Arbeitsgruppen des Quadrilateral Security Dialogue (QUAD) mitarbeiten zu wollen, dem sicherheitspolitischen Dialogforum zwischen den USA, Japan, Indien und Australien. Auch eine formale Mitgliedschaft in einer „QUAD-Plus“ zieht Yoon offenbar in Erwägung. Sein Vorgänger Moon hatte sich hierbei aus Rücksicht auf die Interessen Chinas eher zurückhaltend gezeigt. Peking betrachtet die QUAD als Strategie der USA zur Einhegung Chinas. Yoon ist zwar auch an guten Beziehungen zu China interessiert. Jedoch zeichnet sich ab, dass er gegenüber Peking eine deutlich kritischere Haltung einnehmen wird.