Wie Hans-Jochen Vogel die SPD nach Tschernobyl zum Atomausstieg drängte
Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 versucht CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl im Bundestag zu beschwichtigen. Das lässt SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel nicht zu und kontert mit klaren Aussagen. Seine Partei bringt er damit auf einen Anti-Atom-Kurs.
Deutscher Bundestag / Heribert Bode
„Ich habe den Eindruck, ich habe dem Bundeskanzler besser zugehört als Sie.“ SPD-Fraktionschef Hans-Jochen Vogel im Bundestag, hier 1979
Er hat natürlich nachzählen lassen. 211 Reden hat Hans-Jochen Vogel zwischen 1972 und 1994 im Bundestag gehalten, etwa 100 davon zwischen 1983 und 1991 als Fraktionsvorsitzender. Fünf dieser Reden hat er 2016 zu seinem 90. Geburtstag in dem Buch „Es gilt das gesprochene Wort“ dokumentiert.
Für Vogel ist klar: Ein „Weiter so“ darf es nicht geben
Eine davon hat heute angesichts der erneuten Debatte über die angebliche Unverzichtbarkeit der Atomenergie bedrückende Aktualität. Nach der Kraftwerkskatastrophe 1986 im sowjetischen Tschernobyl war für Vogel klar, dass es ein „Weiter so“ nicht geben dürfe, der Ausstieg aus der Atomenergie müsse dringend eingeleitet werden.
Und so tritt ein kämpferischer Fraktionsvorsitzender an diesem 14. Mai 1986 an Rednerpult im Deutschen Bundestag. Eigentlich ist eine Regierungserklärung von Helmut Kohl zum eben beendeten Weltwirtschaftsgipfel in Tokio geplant. Aber der Kanzler kann es nicht wagen, im Plenum nach wochenlangem Schweigen zum alles beherrschendem Thema Tschernobyl nicht Stellung zu nehmen. Die Menschen sind in Angst. Die nukleare Wolke hat sich nicht um Ländergrenzen oder politische Systeme geschert. Ein Szenario, das Atomkraftgegner seit langem befürchtet hatten.
Vogel kontert Kanzler Kohls Beschwichtigungen
Kohl versucht es mit Beschwichtigungen. Die westlichen Sicherheitsstandards seien mit denen der Sowjetunion nicht zu vergleichen. Atomkraft sei eine saubere Energie, mit der man das leidige Thema „Waldsterben“ begrenzen könne. Nicht das Ende der Kernkraft sei Thema, sondern bessere internationale Zusammenarbeit, mehr Informationen bei Störfällen.
Vogel fasst die Kanzler-Ausführungen in seiner Erwiderung knapp so zusammen: In der Bundesrepublik kann in Sachen Kernenergie alles beim Alten bleiben. Die wütenden Zwischenrufe aus der Unionsfraktion, das habe der so nicht gesagt, belehrt der SPD-Fraktionschef in seiner unnachahmlichen Art, die ihm mal respektvoll, mal hämisch den Titel „Oberlehrer“ bescherte: „Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, ich habe dem Bundeskanzler besser zugehört als Sie. Er hat wörtlich gesagt, bei uns in der Bundesrepublik könne in puncto Kernenergie alles so bleiben, wie es ist.“
Vogel drängt der SPD einen Entscheidungsprozess auf
Und mit dem lapidar wirkenden Satz – „Wir als Sozialdemokraten widersprechen dem ausdrücklich.“ – drängt er der eigenen Partei, in der Atomenergiefrage bis dahin ambivalent, einen Entscheidungsprozess auf. Denn: „Nach Tschernobyl ist nichts mehr so wie es vorher war.“ Es sei „ein Gebot der Vernunft, die Energiepolitik, insbesondere die Kernenergiepolitik, in der Bundesrepublik, aber nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in Europa und international von Grund auf neu zu überdenken“.
Auch für die SPD. Die schwankte noch auf dem Münchner Parteitag 1982 zwischen einem langfristigen Verzicht auf die Atomenergie oder dem massiven Ausbau dieser Energie. Zwei Jahre später beim Essener Parteitag wurde die Atomenergie als Übergangstechnologie definiert, ohne diese Übergangszeit exakt zu bestimmen.
In seiner Bundestagsrede 1986 stellt Hans-Jochen Vogel die Weichen dafür, dass diese Übergangsfrist für einen Ausstieg wenige Monate später auf dem Nürnberger Parteitag auf zehn Jahre festgelegt wird. Voraussetzung natürlich: „entsprechende Mehrheiten“ im Parlament. Die finden sich nach dem Wahlsieg 1998 und der Bildung der rot-grünen Koalition. Wirtschaftsminister Werner Müller handelt mit der Kernenergiewirtschaft einen „Atomkonsens“ aus. 2002 wird das „Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Energie“ beschlossen. Inhalt: 2021 solle das letzte Kernkraftwerk vom Netz gehen.
Die „Formeln von gestern“ geben keine Antworten auf die Fragen von heute
Die Regierung Merkel hebt dieses mit den Stimmen von Union und FDP 2010 wieder auf und verlängert die Laufzeit. In Panik nach der Katastrophe im japanischen Fukushima wird diese Entscheidung im März 2011 erneut korrigiert. Der Atomausstieg soll nun bis 2022 erfolgen. Unter Parteichef Friedrich Merz weicht die CDU davon im Januar 2024 jedoch erneut ab. In der „Heidelberger Erklärung“ heißt es: „Auf die Option Kernkraft können wir zurzeit nicht verzichten.“
Auf diese Wankelmütigkeit der Union hatte Hans-Jochen Vogel schon 1986 eine noch heute geltende Antwort. Nicht mit den „Formeln von gestern“ könne die energiepolitische Herausforderung gemeistert werden. Es bedürfe stattdessen „einer Politik, die weiß, dass wir nicht nur der lebenden Generation, sondern auch den kommenden, den ungeborenen Generationen Rechenschaft schuldig sind“. Und schließlich: „Diese Politik verlangt mehr Mut, mehr Standfestigkeit als eine Politik, die die Dinge im Grunde weiterlaufen und weitertreiben lassen will wie bisher.“
Eine fast vier Jahrzehnte alte Forderung, der sich die SPD nach wir vor verpflichtet fühlt.
Die Serie
Im September 1949 trat der Bundestag erstmals zusammen. In einer neuen Serie beleuchten wir Reden aus acht Jahrzehnten. Alle Teile der Serie finden Sie hier.
arbeitete in den 1980er und 1990er Jahren frei für den „Vorwärts". Danach war er Parlamentskorrespondent, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und des Verteidigungsministeriums.
Atomkraft
Es ist gut daran zu erinnern, daß Hans Jochen Vogel endlich die SPD von der Atomstromschiene runter brachte. Aber !
Seine wegweisende Initiative in den 1970er Jahren zur Reform des Bodenrechts, damit erschwingliche Wohnungen gebaut werden können, hat bisher keine Resonanz gefunden.