Meinung

10 Jahre Fukushima: Atomkraft war nie eine Lösung

Vor zehn Jahren machte die Katastrophe von Fukushima schlagartig klar, dass Atomkraftwerke nirgendwo auf der Welt sicher sind. In Deutschland führte das zur Rücknahme des Ausstiegs aus dem Atomausstieg. Die Antwort auf den Klimawandel muss eine Ökonomie des Vermeidens sein.
von Michael Müller · 10. März 2021
Zerstörtes Atomkraftwerk Fukushima Daichi: Die Kräfte der Natur übertrafen die Sicherheitsvorkehrungen.
Zerstörtes Atomkraftwerk Fukushima Daichi: Die Kräfte der Natur übertrafen die Sicherheitsvorkehrungen.

Am 11. März 2011 kam es um 14.47 Uhr Ortszeit zur Atomkatastrophe von Fukushima. Auslöser war das Töhoku-Erdbeben, das eine Stärke von 9,0 Mw erreichte und in seinen Horizontalbewegungen 15 bis 26 Prozent stärker war als die vorgesehene Auslegung der Kraftwerksblöcke. Alle sechs Blöcke schalteten auf Notkühlung um. Durch das Erdbeben ausgelöste Tsunamiwellen trafen ab 15.35 Uhr mit einer Höhe von bis zu 15 Metern auf das Kraftwerk. Die meerseitig gelegenen vier Reaktorblöcke wurden bis zu fünf Meter überschwemmt. Insgesamt fielen fünf der sechs Generatoren aus, eine ausreichende Kühlung war nicht mehr gewährleistet. Die Unfallkette konnte nicht gestoppt werden. Die Strahlenbelastung stieg stark an.

Ein GAU im High-Tech-Land Japan

Die Kräfte der Natur übertrafen die Sicherheitsvorkehrungen und lösten im japanischen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi den zweiten Größten (nicht-) Angenommenen Unfall (GAU) in der Geschichte der Atomenergie aus. Nach den beiden Atombombenabwürfen über Hiroshma und Nagasaki 1945 kam es nach Tschernobyl vom 26. April 1986 zur zweiten Katastrophe in der „zivilen“ Nutzung der Atomkernspaltung. Und diesmal im High-Tech-Land Japan. Der Selbstbetrug der Befürworter*innen des „nuklearen Höllenfeuers“, Atomreaktoren in den westlichen Industriestaaten seien sicher, war vorbei.

Zum zweiten Mal in der Geschichte der Atomenergie war der schaurige Ernstfall eingetreten. Dabei gab es auch vorher Beinahe-Katastrophen, etwa in den USA beim Reaktor Fermi bei Detroit, beim Brand des AKW Browns Ferry und vor allem in Three-Miles-Island bei Harrisburg, als es fast zur Kernschmelze kam. Auch in Japan traten 1995 im Schnellen Brüter von Monju unkontrollierte Reaktionen auf, zwei Jahre später wurden in der WAA Tokai 35 Menschen schwer verstrahlt. Die Warnsignale waren also da, aber sie wurden nicht beachtet.

Atomkraftwerke sind nirgendwo auf der Welt sicher

In Fukushima kam es in Block 1 bis 3 kam zur Kernschmelze, der ebenfalls zerstörte Block 4 war in Revision, seine Brennelemente lagerten im Abklingbecken. Die Blöcke 5 und 6 waren Monate vorher runtergefahren worden. Außerdem befanden sich im Abfalllager des Atomkraftwerks mindestens 10.000 Tonnen kontaminiertes Wasser.

Bis zu 20 Prozent der radioaktiven Emissionen von Fukushima vergifteten Wasser, Luft, Böden und Nahrungsmittel. Rund 150.000 Menschen wurden evakuiert, hunderttausende in der Landwirtschaft zurückgelassene Tiere starben. Die Todesopfer des GAUs sind noch schwer zu erfassen, zumal die meisten Informationen von der Betreiberfirma Tokio Electric Power Company (Tepco) stammen. Die japanische Atomaufsichtsbehörde (NISA) nahm vor Ort keine Messungen vor. Sie stufte die Katastrophe in der internationalen Bewertungsskala auf den Höchstwert 7 ein.

Fukushima machte schlagartig klar, dass  Atomkraftwerke nirgendwo auf der Welt sicher sind. Was nützen die selbstberuhigenden mathematischen Risikorechnungen, die zwar die Eintrittswahrscheinlichkeit als gering herausstellen, sie aber nicht ausschließen können. Die statistische Wahrscheinlichkeit über den Zeitpunkt eines möglichen Unfalls ist nicht vorherzusagen. Er kann am Ende, aber auch am Anfang der Berechnung liegen. Hinzu kommt die zweite Komponente der Risikoanalyse, der bei einem GAU eintretende Schadensumfang, der bei der Atomkraft nicht zu verantwortlich ist.

Das System von Versuch und Irrtum fuktioniert nicht mehr

Aus versicherbaren Risiken, die zur Geschichte der Industriegesellschaft gehören, werden durch intolerante Großtechnologien Gefahren, die nicht versicherbar sind. Eine Schwelle wird überschritten, das System von Versuch und Irrtum, dem die Menschheit fast alles zu verdanken hat, funktioniert nicht mehr. Das falsche Vollkommenheitsideal einer irrtumsfreien Technik riskiert zwar nicht das Ende der Welt, aber in radioaktiv verstrahlten Regionen auch nicht viel weniger, nämlich das Ende einer menschlichen Welt und eines humanen Lebens.

Die Möglichkeit des Irrtumslernens ist, wie sowohl die Klimakrise als auch die atomare Kernschmelze zeigen, sowohl durch die Quantität der Naturbelastungen als auch durch eine fehlerfeindliche Großtechnologie bedroht. Diese Erkenntnis verlangt vom Menschen das Prinzip Verantwortung oder sie werden selbst zum gefährlichen Störfaktor.

Die SPD ist seit 1984 für den Atomausstieg

In unserem Land gibt es seit dem GAU vom 26. April 1986 in der ukrainischen Atomzentrale von Tschernobyl, als der Block 4 des Lenin-Kraftwerks außer Kontrolle geriet, eine stabile Mehrheit für den Ausstieg aus der nuklearen Stromversorg. Die SPD hat sich bereits 1984 auf ihrem Parteitag in Essen für einen Ausstieg aus der Atomenergie entschieden, die auf dem Godesberger Parteitag 1956 mit großen Erwartungen gefeiert wurde. Nach zweijährigen Verhandlungen wurde im Jahr 2000 von der rot-grünen Bundesregierung mit den vier Betreiberfirmen EnBW, RWE, Vattenfall und VEBA ein Abschalten der deutschen Atomkraftwerke bis spätestens 2032 vereinbart.

CDU/CSU und FDP taten dagegen die Katastrophe von Tschernobyl als Folge der unsicheren östlichen Technologie ab. Was scherte es die Führung der Union, dass nur wenige Wochen vor dem GAU der bayerische Umweltminister Alfred Dick den sowjetischen RBMK-Reaktor von Tschernobyl noch als vergleichbar sicher mit westlichen Typen bewertet hat. Der Reaktor Bolschoi Moschtschnosti Kanalny, zu Deutsch etwa Hochleistungs-Reaktor mit Kanälen, ist ein graphitmoderierter, wassergekühlter Siedewasser-Druckröhrenreaktor mit erheblichen Defiziten in den Sicherheitssystemen.

Insgesamt sollten 26 dieser Reaktoren gebaut werden, von denen neun aber nicht fertiggestellt wurden. Von den 17 in Betrieb genommenen Reaktoren waren Ende 2019 noch zehn in Betrieb. Der letzte soll 2050 stillgelegt werden. Auch Michail Gorbatschow, der 1986 die politische Verantwortung in der UdSSR hatte, spielte bei Tschernobyl keine überzeugende, schon gar keine aufklärerische Rolle.

CDU/CSU und FDP verlängerten die Laufzeiten

Während der Zeit der großen Koalition von 2005 bis 2009 taten die Betreiberfirmen alles, um durch still- und Revisionszeiten vorgesehene Abschaltungen über den Wahltermin hinauszuschieben. CDU/CSU und FDP wollten die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke verlängern und taten das auch im Jahr 2010 mit ihrer neuen Mehrheit. Dann kam Fukushima.

Unter dem Druck der öffentlichen Proteste zeigte sich die Bundeskanzlerin, die bis dahin keinen Zweifel an ihrer Pro-Atomhaltung gelassen hatte, wieder einmal als „flexibel“ und drehte sich um 180 Grad. Sie verfolgte fast die identischen Ausstiegsfristen wie die Regierung Schröder zuvor. Aber sie besaß dennoch nicht die Größe, zu der früheren, mit den Atomkonzernen ausgehandelten Linie zurückzukehren. Es kam zur Änderung des Atomgesetzes, was die Betreiber dafür nutzten, gegen die Bundesregierung auf Entschädigung zu klagen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sind Milliardenbeträge fällig, die hätten vermieden werden können.

Kein Konzept für eine wirkliche Energiewende

Trotzdem ist es Angela Merkel gelungen, dass ein großer Teil der Öffentlichkeit nicht 2000, sondern den Fukushima-GAU von 2011 als Ausstiegsdatum nennt. Auch das ist typisch für das System Merkel, das alles auf sich zu ziehen sucht, ohne selbst gestalten zu wollen. Und bis heute haben Union und FDP kein Konzept für eine wirkliche Energiewende, die sowohl eine solare Basis als auch eine drastische Reduktion des Energieumsatzes erfordert. Effizienzrevolution, Erneuerbare Energien, Dezentralisierung und Demokratisierung müssen eine Einheit werden. Umbau und Vermeiden gehören zusammen.

Der Ausbau der Atomenergie war ein großer Fehler. Die Atomkernspaltung wurde nach ihrer Entdeckung durch Otto Hahn und Fritz Strassmann 1938 zu einem militärischen Projekt. Um von dem Schrecken der Atombomben abzulenken, kam es 1953 zu dem Programm „Atoms for Peace“, das von US-Präsident Eisenhower vorangetrieben wurde. Der harte Weg der Stromerzeugung setzt auf große Kraftwerke, lange Übertragungsnetze und steigende Nachfrage. Und er ist teuer und ineffizient. Ein Atomkraftwerk kommt beim Effizienzgrad in der Nutzung nur auf rd. 30 Prozent. Das ökologische Konzept der Energiedienstleistungen ist damit nicht möglich. Es setzt sowohl auf Vermeiden als auch auf Erneuerbare Energien.

Ökonomie des Vermeidens statt Atomkraft

Doch die Energiewende wurde immer mehr gedeckelt, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier hat mit ökologischen Innovationen wenig am Hut. Es ist aber alarmierend, dass in einigen Ländern wieder auf Atomkraft gesetzt wird, auch mit der falschen Begründung der Klimaverträglichkeit. Abgesehen davon, dass die Pest nicht mit Cholera zu bekämpfen ist, geht die Behauptung der klimaneutralen Atomenergie in die völlig falsche Richtung.

Nicht nur, weil über die gesamte Kette vom Ressourcenabbau über die Wandlung bis zur Nutzung auch ein Atomkraftwerk CO2 emittiert und eine Gas-und-Dampf-Kraftwerk auf Gas-Basis besser dasteht, ist die entscheidende Frage eine andere: Unter welchen Bedingungen können  die Treibhausgase am stärksten  reduziert werden? Das ist systembedingt nicht die Atomkraft, sondern eine Ökonomie des Vermeidens, die möglichst hohe Effizienz- und Vermeidungsziele möglich macht. Dabei muss die Steigerung der Energieeffizienz deutlich höher sein als das wirtschaftliche Wachstum.

Die Klima-Enquete des Deutschen Bundestag hat sich ausführlich mit der Rolle der Atomenergie beschäftigt. Das einstimmige Ergebnis heißt: Der entscheidende Hebel für Klimaschutz ist der Umbau hin zu Energiedienstleistungen. Nur dann wird es möglich Wirtschaft und Gesellschaft klimaverträglich zu machen. Die Atomenergie muss eine kurze, wenn auch teure und riskante Epoche technischer Überheblichkeit bleiben.

Autor*in
Michael Müller

war Sprecher der SPD in der Klima-Enquete des Deutschen Bundestages und ist Bundesvorsitzender der NaturFreunde.

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