Parteileben

Warum ein Stadtratskandidat in Erfurt mit seinem Hinterkopf wirbt

Tino Netzel will für die SPD in den Erfurter Stadtrat. Auf seinen Wahlplakaten prangt dabei sein Hinterkopf. Die Idee dafür reicht mehrere Jahrzehnte zurück.

von Kai Doering · 24. Mai 2024
Mit einem Augenzwinkern: Der Erfurter SPD-Stadtratskandidat Tino Netzel wirbt mit seinem Hinterkopf.

Mit einem Augenzwinkern: Der Erfurter SPD-Stadtratskandidat Tino Netzel wirbt mit seinem Hinterkopf.

Als die ersten Plakate hingen, war der Schreck groß. Statt das Gesicht von Tino Netzel an die Laternen in Erfurt zu hängen, prangte dort nun sein Hinterkopf. „Einmal mit Profis zusammenarbeiten“, kommentiert der 39-jährige Kandidat für den Erfurter Stadtrat das Ergebnis sichtlich schockiert in einem Video auf seinem Instagram-Account. Die Entrüstung war zwar nur gespielt, doch die Plakate mit Netzels Hinterkopf hängen tatsächlich seit einigen Wochen in Erfurt – und zwar mit voller Absicht.

Interesse wecken in drei bis vier Sekunden

„Ich mache vieles mit einem Augenzwinkern“, erzählt Tino Netzel am Telefon. Genau so seien auch die Hinterkopf-Plakate zu verstehen. Zudem zeigen sie, dass er nicht ein-, sondern mehrdimensional sei. „Man muss das Interesse der Menschen in drei bis vier Sekunden wecken. Mehr Zeit hat man nicht“, ist Netzel überzeugt. Das gelte auf der Straße ebenso wie in den sozialen Medien. Auf letztere setzt er im Wahlkampf einen Schwerpunkt. Als Referent für Kommunikation und Marketing berät er Krankenhäuser in Mittel- und Süddeutschland bei ihrer Kommunikation, bringt also einiges an Know-how mit.

Die Inspiration zu den Hinterkopf-Plakaten dagegen kommt aus Niedersachsen. Bei der Landtagswahl 1986 trat dort der SPD-Abgeordnete Peter Dehn ebenfalls mit einem Plakat an, das ihn von hinten zeigte. Dazu die Frage: „Kennen Sie Dehn?“ Zwar hatte Dehn die Anregung selbst aus den USA mitgebracht, doch in Deutschland war er nach eigener Aussage der erste Politiker, der auf diese Weise für sich warb. „Ich habe Peter Dehn vor zwölf Jahren bei der SPD Halle (Saale) kennengelernt und mir vorgenommen: Wenn ich mal für etwas kandidiere, dann mache ich das auch“, erzählt Tino Netzel.

Unterstützung aus der Erfurter Kreativszene

35 seiner Plakate hängen in Erfurt. Netzel hat sie alle selbst aufgehängt. Nicht, weil ihm niemand helfen wollte. „Ich war einfach zu ungeduldig“, erzählt er. Alle, die Hilfe angeboten hatten, hätten erst einige Tage später Zeit gehabt. „Da bin ich gleich am ersten Tag selbst mit dem Bollerwagen losgezogen.“ Innerhalb weniger Stunden hätten alle Plakate gehangen. Und sie hängen immer noch. Obwohl die SPD in Erfurt bei dieser Kommunalwahl viel mit Vandalismus zu kämpfen hat, blieben Netzels Plakate weitgehend verschont. „Vielleicht wird es respektiert, wenn jemand einen unkonventionellen Wahlkampf macht“, spekuliert der Kandidat.

Dabei beschränkt Tino Netzel seinen Wahlkampf nicht auf kreative Plakate. Auf seinem Instagram-Kanal stellt er in kurzen Videos seine Schwerpunkte vor. Es geht um die Förderung der Kreativwirtschaft, die Digitalisierung der Stadtverwaltung sowie um die Schwimmhallen und Freibäder. Auch hier setzt Netzel stets ein Augenzwinkern. Unterstützung beim Dreh und Schnitt der Videos bekam er von einem Kollegen, der Videograph ist. „Ich weiß nicht, ob er die SPD wählt, aber er wollte mich als Person unterstützen“, erzählt Netzel, der auch im Vorstand des Mediennetzwerks Thüringen e.V. aktiv ist.

Wahlkampfkosten im vierstelligen Bereich

Der Kandidat hat auch in Eigenregie drei thematische Flyer entworfen und 12.500 Exemplare drucken lassen. Für den Wahlkampf hat er sich ein Gravur-Gerät angeschafft, mit dem er Kugelschreiber und Flaschenöffner selbst beschriftet. „Bei den Kosten bin ich locker im vierstelligen Bereich“, rechnet Tino Netzel vor – und das für ein Stadtratsmandat, das – abgesehen von einer Aufwandsentschädigung – keine Einkünfte verspricht.

Doch Tino Netzel geht es um etwas anderes. „Ich bin vor zwölf Jahren in Sachsen-Anhalt in die SPD eingetreten und war lange stilles Mitglied“, berichtet er. Als die Corona-Pandemie vorbei war, habe er sich dann – seit 2016 in Erfurt wohnend – überlegt, aktiv zu werden. „Ich will mir nicht irgendwann vorwerfen müssen, nichts getan zu haben, als die AfD stark wurde“, sagt Netzel. Ob es mit dem Einzug in den Erfurter Stadtrat am Sonntag klappen wird, will der 39-Jährige nicht vorhersagen. Das Gefühl sei aber gut. Und dann werden die Menschen in Erfurt künftig mehr von Tino Netzel sehen als nur seinen Hinterkopf.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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