„Klingbeil im Gespräch“: Wie der SPD-Chef Politik sichtbarer macht
Mathias Bahl hat Lars Klingbeil eine Drahtbürste mitgebracht und jede Menge Fragen. Bahl ist Geschäftsführer der „Technische Bürsten GmbH“ im brandenburgischen Spremberg. Seit fast 190 Jahren werden hier Bürsten hergestellt. Das Unternehmen hat die Nazi-Zeit überstanden und die DDR. Doch jetzt könnte es „vor die Hunde gehen“. So zumindest sieht es Mathias Bahl.
„Ich bin ein Verfechter des Mindestlohns, aber wir können in der Rezession die Unternehmen nicht weiter belasten. Wir brauchen Luft zum Atmen“, bricht es aus dem Geschäftsführer heraus. Als die Mindestlohnkommission Ende Juni entschied, dass der Mindestlohn zum kommenden Jahr nur auf 12,41 Euro steigen soll, habe er gejubelt, erzählt Bahl. Doch dann habe er von der Forderung von Lars Klingbeil gehört, der Mindestlohn müsse auf 14 Euro steigen. „Warum warten wir damit nicht noch ein Jahr?“, will Bahl wissen. „Wir können die Fülle der Aufgaben in der Kürze der Zeit nicht bewältigen.“
Alles darf gesagt und gefragt werden
Die Begegnung mit dem Geschäftsführer der Bürstenfabrik ist genau das, was Lars Klingbeil sich gewünscht hat. „Klingbeil im Gespräch“ heißt die Veranstaltung, für die der SPD-Chef am Dienstagabend in die Kleinstadt Forst in der Lausitz gekommen ist. Im Raum sitzen etwa 50 Personen, die Klingbeil alles fragen können, was ihnen unter den Nägeln brennt. „Alles darf gesagt und gefragt werden“, hat Klingbeil zu Anfang die Regeln erklärt. Die Fragen können entweder auf Zetteln eingereicht oder direkt über ein Mikrofon gestellt werden. Mathias Bahl hat sich für die zweite Variante entschieden.
„Es gibt in diesem Land nicht wenige Leute, die können auch von 12,41 Euro nicht leben“, antwortet der SPD-Vorsitzende dem Geschäftsführer auf seine Mindestlohn-Frage. Deshalb habe er die Forderung nach einer Erhöhung auf 14 Euro erhoben. „Das heißt nicht, dass ich ihr Problem nicht sehe.“ Doch statt bei den Löhnen zu sparen halte er es für sinnvoller, die Unternehmen an anderer Stelle zu entlasten, bei der Bürokratie etwa oder bei den Rohstoffpreisen. „Ich habe den Anspruch, dass Menschen von ihrer Arbeit auch leben können“, stellt Lars Klingbeil klar.
„Wir müssen mehr miteinander diskutieren.“
Ob Mathias Bahl mit dieser Antwort vollkommen zufrieden ist, bleibt unklar. Doch zumindest kennen nun beide die Argumente des anderen. Das ist eins der Ziele von „Klingbeil im Gespräch“, das der SPD-Politiker bereits seit 13 Jahren in seinem Bundestagswahlkreis in Niedersachsen anbietet. Seit einigen Monaten ist Klingbeil damit deutschlandweit auf Tour. „Uns fehlt sowas wie der klassische Stammtisch“, sagt der SPD-Vorsitzende zur Begründung. Jede*r ziehe sich mehr und mehr in seine eigene Blase zurück. „Wir müssen mehr miteinander diskutieren. Das stärkt auch die Demokratie“, ist Klingbeil überzeugt.
In Forst geht das Konzept auf. In zwei Stunden kommen viele Themen zur Sprache – der Ärztemangel vor Ort ebenso wie der Krieg in der Ukraine. Warum die Politik nicht endlich verhandele, um einen Frieden zu erreichen, will eine Frau wissen. Olaf Scholz tue das, indem er regelmäßig mit dem russischen Präsidenten telefoniere, versichert Lars Klingbeil. Dabei sei aber klar: „Es gibt eine Person, die es in der Hand hat, ob es einen schnellen Frieden gibt: Das ist Wladimir Putin.“
„Politik muss sichtbar sein.“
Irgendwann weht Bratwurstduft durch die offenen Fenster herein. Die Veranstaltung geht langsam zu Ende. Doch dann spricht Maja Wallstein, die örtliche Bundestagsabgeordnete, die gemeinsam mit Klingbeil Rede und Antwort steht, noch ein Thema an, „das für uns sehr emotional ist“. Im Frühjahr hatten zwei Lehrer*innen rechtsradikale Umtriebe an einer Schule ein paar Orte weiter angeprangert. Doch statt unterstützt zu werden wurden sie bedroht und von Kolleg*innen geschnitten. In der vergangenen Woche gaben beide bekannt, die Schule zum neuen Schuljahr zu verlassen. Nun sitzen sie im Publikum.
„Das waren zwei Leute ziemlich allein. Das darf nicht passieren“, sagt Klingbeil und verspricht: „Wir lassen nicht zu, dass die Grenzen des Sagbaren verschoben werden.“ Auch deshalb seien Formate wie „Klingbeil im Gespräch“ so wichtig, findet er. „Politik muss sichtbar sein. Von Haustür zu Haustür zu gehen, ist besser als 20 Bücher zu lesen“, ist Klingbeil überzeugt. Maja Wallstein ist deshalb im Frühjahr mit einem Bollerwagen durch ihren Wahlkreis gelaufen. Ihre „ZuhörTour“ hat sie bereits im dritten Jahr in Folge gemacht.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.